Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
und es war nicht so, daß wir nicht miteinander redeten; der Abstand zwischen uns dehnte sich unter einer Kraft, die unserer Kontrolle entzogen war, und jeder hatte Ausblick auf etwas anderes – das war es. Wir sprachen auch über meinen Vater. Sie erzählte mir, wie sie ihn gefunden hatte. In der Scheune. Er war gestorben, während sie im Haus war. Weil er oft Tage und Nächte hintereinander an seinen Kompositionen »bastelte« (erst wollte er, daß man ihn einen Musikanten nannte, dann einen Musiker, schließlich einen Bastler) – oder am Ende doch wohl nur noch so tat, als ob er bastelte –, hatte er sich drüben eine Matratze auf den Boden gelegt. Manchmal habe sie ihn drei Tage lang nicht gesehen, sagte sie. Er habe fast nichts mehr gegessen. Immer öfter habe er sich in der Schule krank gemeldet.
    Irgendwann nach den Feiertagen klingelte es an der Tür, und Chucky stand draußen. Anders als sein Bruder blieb er vor der Tür stehen, nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte.
    »Geht’s, daß wir reden?« fragte er.
    Er wirkte ruhig, entspannt, keine Spur von dem nervösen glücklichen Haß, der einen das Gesicht seines Bruders nicht vergessen ließ. Er hatte einen blonden, lichten Vollbart, der sich bis zum Kragen hinunter krauste, und große, durchschimmernd rote Ohren. Er trug die Sonntagssachen vom Land und derbe, sorgfältig polierte Schuhe. Seine Fingernägel waren schalenförmig und hatten weiße Ränder, als hätte er sie mit der Spitze eines weißen Stiftes geputzt. Wir fuhren in seinem Kombi flußaufwärts und ein Stück den Berg hinauf und setzten uns in ein Gasthaus. Wir waren die einzigen. Blick über Feldkirch bis zu den Bergen in der Schweiz – die Kurfürsten, der Hohe Kasten. Wir bestellten Bier und Kaffee. Ich fürchtete mich nicht vor ihm.
    »Im Fall, daß es wegen Maro ist …«, begann ich.
    »Was denn wegen Maro?« Er sprach mit sanfter Stimme.
    »Wegen der Band damals … du am Schlagzeug …«
    »Der Martin ist ein Idiot«, unterbrach er mich gleich. Ich mußte mich ihm zuneigen, so leise sprach er. »Ein Übergeschnappter, der dumm ist. Ich kenne überhaupt niemanden, der so dumm ist wie der Martin. In Spanien hat er nichts dazugelernt. Wenn’s nach mir ginge, hätten sie ihn unten behalten sollen. Er bringt Unglück. Er reißt nur das Maul auf und tut nichts. Ich bin dafür, daß man ihn entmündigt.«
    Ich wußte nichts zu sagen. Wußte nicht, wie ich mein Gesicht einrichten sollte. Meine Phantasie konnte aus ihm nichts anderes werden lassen, als er bereits war. Chucky stellte mir keine Falle. Das wäre Maros Art gewesen. Augen, so blau wie aus der Werbung zwanzig Jahre später oder vierzig Jahre früher, er starrte sich ein Stück in mich hinein, nicht metaphorisch gemeint, sondern in sturen Zentimetern. Er wartete. Er wollte etwas von mir und wartete, ob ich vielleicht errate, was er wollte. Eine Frage meinerseits wäre ein halbes Einverständnis gewesen mit dem, was er mit mir vorhatte. Also schwieg ich ebenfalls.
    Nach einigen seufzenden Atemzügen sagte er: »Ich weiß, was du machst.«
    »Was mach ich denn?«
    »Du studierst.«
    »Ich bin fertig. Ich mach gar nichts zur Zeit.«
    »Das spielt keine Rolle«, sagte er, und da gab es nichts zu widersprechen. »In Deutschland studierst du. Aber die Frage ist doch: Warum studierst du in Deutschland? Warum nicht bei uns in Österreich? Kann man nicht in Innsbruck studieren? Oder in Salzburg? Oder in Wien? Man hat in Deutschland etwas zu tun, darum. Stimmt’s?« Der Bauer stand in seinem Gesicht, randvoll mit schlauer Stumpfheit. Die Verwunderung, die er in mir weckte, war offensichtlich ansteckend: Er blickte mich an, als wäre ich gerade vom Ende der Welt angekommen. »Verstehst du, was ich sagen will?«
    »Ich verstehe gar nichts«, antwortete ich.
    Er nickte. Ich interpretierte es als ein zufriedenes Nicken. Als laufe alles zwischen uns, wie er es sich vorgestellt hatte.
    »Klar, daß du das sagst.«
    »Klar, daß ich was sage?«
    »Es ist gut, daß du nichts sagst.«
    »Es ist gut, daß ich was nicht sage?«
    Er nahm einen Bierdeckel, spaltete die Pappe an einer Ecke mit dem Daumennagel, zerteilte sie vorsichtig. »Hast du einen Kuli?« fragte er. »Nein«, sagte ich. »Bringen Sie mir bitte einen Kugelschreiber!« rief er der Bedienung zu, und als die Frau mit der schwarzgefärbten Außenwelle ihm den Stift reichte, bedankte er sich mit pfadfinderhaftem Ernst, und ich hatte den Eindruck, er tat das nur, weil er sich dachte,

Weitere Kostenlose Bücher