Abendland
ist? Die meisten von ihnen haben eine schlechte Haut. Man kann das kaum verhindern. Auf der Haut trifft alles zusammen. Das, was von innen kommt, und das, was von außen kommt. Ein wildes Leben, eine wilde Haut. Ihre ist fein. Von oben bis unten gleich, kein Fleck, kein Punkt. Sie hat ein wildes Leben, aber sie hat ihr Gesicht im Griff. Sie kann sich auf ihr Gesicht verlassen. Das ist die höchste Kunst und Wissenschaft. Du siehst keine Spur von dem, was sie denkt. Sie muß nichts verstecken mit Haaren oder Grimassen. Nur die Augen. Die Augen hat niemand bis ins Letzte in seiner Gewalt. Das kann nicht gehen. Es ist ein Polizeifoto. Das darfst du nicht vergessen. Darum macht sie die Augen so schmal. Damit nur das Allernotwendigste heraus- und das Allernotwendigste hineinkommt. Schau dir den Mund an! Er ist nichts weiter als zwei Lippen, die aufeinanderliegen. Probier das einmal! Mach einen Mund, der überhaupt nichts bedeutet. Von dem niemand etwas ablesen kann. Probier das! Das geht nicht. Man macht in so einem Fall nämlich einen Mund, von dem man nichts ablesen können soll. Aber genau das kann man ablesen, und genau das soll man nicht ablesen können. Jeder denkt sich: Warum will der einen Mund machen, von dem man nichts ablesen kann? Das ist verdächtig. Das ist noch verdächtiger, als wenn du einen brutalen Mund machst. Bei einem brutalen Mund könnte man sich immerhin denken, der macht extra einen brutalen Mund, weil er will, daß man meint, daß er brutal ist, und das will nur einer, der nicht brutal ist. So machen es die Idioten. Der Martin würde das so machen. Sie aber denkt alles, was sie tun will, vorher genau durch. Jeden Schritt denkt sie durch. Sie sagt sich: erstens, zweitens, drittens. Sie hat Angst. Und von erstens zu zweitens zu drittens kriegt sie immer mehr Angst. Am Schluß hat sie alle Angst durch. Und es ist gut, und die Angst ist weg. Ich habe gelesen, daß die Frauen sich untereinander abstimmen, wann sie die Regel kriegen. Wie das gehen soll, weiß ich nicht. Aber ich glaube das. Sie mieten Wohnungen und richten die Wohnungen ein. Es gibt Nachbarn. Man will niemanden erschießen, der nicht erschossen werden muß. Es kann sein, daß ein Nachbar kommt und Salz ausborgen will. Da muß man sagen können: Komm herein. Bleib doch nicht im Gang stehen, Menschenskind, willst du einen Kaffee. Oder so ähnlich. Wenn man den draußen stehenläßt, ist das verdächtig. Warum läßt der mich nicht hinein? Wenn man kein Salz hat, ist das verdächtig. Jeder Mensch hat Salz, warum hat der kein Salz? Wenn man ihn aber in die Wohnung läßt, muß die Wohnung irgendwie aussehen. Die kann nicht leer sein. Das wäre verdächtig. Normale Einrichtung. Nichts Besonderes. Wenn es etwas Besonderes ist, erzählt er es vielleicht herum. Die haben etwas Besonderes in der Wohnung. Wenn er Verdacht schöpft, muß man ihn wahrscheinlich erschießen und den, dem er es weitererzählt hat, auch. Das will man nicht. Erstens, zweitens, drittens. Verstehst du? Alles durchdacht. Jeder Schritt höllische Angst. Sie liegt wach und denkt alles durch. Neben ihr liegen die anderen und schlafen. Unterernährte komische Typen. Ich würde ihr gern helfen. Sie braucht jemanden, der auf sie aufpaßt. Ihr Dinge abnimmt. Soll sie selber das Salz besorgen oder die Möbel, soll sie selber die Wände tapezieren, das Elektrische reparieren? Oder daß das Auto immer vollgetankt ist. Und genug Öl. Das Öl wird leicht vergessen. Ich würde das gern machen.«
»Woher weißt du das alles«, fragte ich ihn.
Er klopfte mit dem Finger auf das Bild. »Ich sehe es.«
»Du siehst das in ihrem Gesicht?«
Er nickte.
»Auf diesem Foto?«
Er nickte und steckte das Foto wieder ein.
»Es ist kein gutes Foto, Chucky. Und ein Polizeifoto ist es dazu. Und obendrein hast du das Foto aus einer Zeitung ausgeschnitten. Fotos in Zeitungen sind gerastert. Das heißt, sie bestehen aus lauter Punkten. Du könntest einen Pickel ja gar nicht von einem Rasterpunkt unterscheiden. Vielleicht hat sie gar keine reine Haut, vielleicht hat sie so viele Pickel wie Rasterpunkte.«
»Das hat sie nicht. Das sehe ich.«
»Schau mich an, Chucky! Und in meinem Gesicht siehst du nicht, daß ich dich nicht anlüge? Aber ich lüge dich nicht an, Chucky. Ich kenne wirklich niemanden von denen. Und daß sie außer Brigitte noch Margret Ida heißt, das habe ich zum erstenmal gehört.«
Er blickte mich an, genauso ausdruckslos, wie er meinte, daß Brigitte Margret Ida Mohnhaupt auf
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