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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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dem Fahndungsfoto in die Welt hineinblickte. Und es war dennoch klar, was er dachte: Er hat sich verraten, dachte er. Chucky hatte mich bisher weder gefragt, ob ich einen von denen kenne, noch hatte er es behauptet. Von mir war überhaupt noch nicht die Rede gewesen. Ich war es, der mich dauernd mit denen in Verbindung brachte. Er rief: »Zahlen!«, legte Geld für sein Bier und meinen Kaffee auf den Tisch und fuhr mich ohne ein weiteres Wort nach Hause.
    Nach Neujahr klingelte er wieder an unserer Tür.
    »Ich fahr dich hinaus nach Frankfurt«, sagte er.
    »Ich fahr mit dem Zug«, sagte ich, »ich habe eine Retourkarte.«
    »Ich löse sie dir am Schalter ein«, sagte er.
6
    Dagmar wollte bis Dreikönig in Marburg bleiben. Das war mir recht. Chucky würde es ohnehin nicht länger als ein paar Tage in Frankfurt aushalten. Die Stadt war ihm von Anfang an zuwider, sie verunsicherte ihn, stauchte ihn zusammen; er sagte, daß er sie hasse, da hatten wir noch nicht einmal einen Parkplatz gefunden. Sie sei dreckig und gemein und verhurt, fluchte er aufs Lenkrad nieder. Ich hatte nicht vor, diesen Eindruck zu korrigieren. Unsere Wohnung in der Danneckerstraße, das stellte er in der ersten Minute klar, sei ein hirnverbrannter Blödsinn, er würde verrückt werden in einem »dreieckigen Zimmer«, von dem man nicht einmal wisse, ob es eine Küche oder ein Badezimmer sei. »Wie wollen wir es sonst anstellen«, fragte ich. »Hier steht leider das einzige Sofa.« »Ist ja wurscht«, brummte er und legte sich hin. Als ich ihm eine Wolldecke brachte, war er bereits eingeschlafen, in sich verkrümmt wie ein bockiges Kind, Ohren wie Warnleuchten.
    Um halb sechs Uhr morgens hörte ich ihn husten und sich räuspern und auf und ab gehen und immer wieder »Scheiße!« sagen. Ich blieb absichtlich lange im Bett liegen. Dies war mein Revier, hier hatte er sich nach mir zu richten. Wir aßen in der Mensa der Universität zu Mittag. Ich zeigte ihm die braunen Flecken auf der Decke, sechs Meter oben. »Spaghetti Bolognese«, sagte ich. »Diese Schweine«, sagte er und drehte sich um und holte ordentlich Luft, als wolle er gleich ein Statement in die Runde brüllen. Tat er nicht. Am Abend zogen wir durch die Kneipen, in keiner gefiel es ihm. »Es sind doch noch jede Menge Sitzplätze frei«, sagte er. »Warum stehen die alle?«
    Am nächsten Tag weigerte er sich, die Wohnung zu verlassen. Hier müsse geputzt werden, stellte er fest. Er arbeitete acht Stunden durch. Meine Aufgabe war es, Coca Cola und Wurstsemmeln zu holen und Putzmittel und Scheuertücher einzukaufen und den Müll hinunterzutragen und ihm bei seiner Arbeit nicht im Weg zu stehen. Am Abend roch die Wohnung nach Zitrone und Salmiak. Er pflanzte sich mitten drin auf und kratzte sich die Oberarme. Ich fragte ihn, wie er in der Bruchbude in Nofels seine Sauberkeitsansprüche aufrechthalten könne. Er schickte mir einen bösen Blick zu. Eine Stunde später drückte er mich gegen die Wand, holte auf ähnliche Weise wie in der Mensa tief Luft, und was er mir antwortete, klang feierlich und offiziell: »Erstens: gehört mir dort nur ein Zimmer. Mehr brauche ich nicht. Zweitens: wirst du in diesem Zimmer keine Sauerei finden, und zwar keine. Drittens: habe ich einen eigenen Eisschrank in dem Zimmer und eine eigene Kochplatte, und zwei Stunden jeden Tag wird gelüftet. Und der Martin nimmt sich zur Zeit eh zusammen. Sonst geht mich das Haus nichts an.«
    Am dritten Tag marschierten wir durch den Zoo, von den Tigern zu den Gorillas, von den Löwen zu den Nashörnern, von den Schimpansen zu den Straußen, von den Elefanten zu den Giraffen, von den Ameisen zu den Nachtaktiven, und schließlich war es Nacht, und ohne jeden Übergang sagte er: »Es reicht jetzt! Führ mich hin! Und halte mich auch nicht eine einzige Minute länger zum Narren!«
    Ich hielt ihn tatsächlich für einen Narren, für einen hochgradigen sogar, beschränkt, putzsüchtig, einsam und durch und durch harmlos. Seit wir in Frankfurt waren, hatte er nicht ein Wort mehr geredet über Brigitte Mohnhaupt und ihre Gang und seine Absicht, »bei denen mitzumachen«. Wenn wir durch die Stadt gingen, entfernte er sich nicht weiter als drei Schritte von mir, und als ich einmal mitten auf der Zeil im Trippelschritt Achterschleifen zwischen zwei kahlen Zierbäumchen gezogen hatte, nur um zu sehen, wie weit ich es treiben durfte, war er hinter mir hergetapst, und ich hatte ihm angesehen, wie sich Wut und die Unsicherheit, ob es sich

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