Abendland
nicht. Es ist dir doch scheißegal, ob du ihm gegenüber fair warst oder nicht. Du meinst, du hättest ihn nicht zu der Schwäbin schicken sollen, weil die beiden vielleicht wirklich etwas anstellen könnten. Das meinst du doch, oder?«
»Nein, das meine ich nicht!«
»Das meinst du, ich weiß es genau!«
»Jetzt spinn’ doch nicht! Nein!«
»Du hast immer gesagt, die Schwäbin ist verrückt. Und wenn sie zufällig tatsächlich verrückt ist? Und wie du über deinen Freund redest …«
»Er ist nicht mein Freund!«
»… einer, der in eine fremde Wohnung kommt und gleich am ersten Tag anfängt zu putzen, der ist doch verrückt.«
»Nicht gleich am ersten Tag. Außerdem habe ich übertrieben.«
»Ich glaube nicht, daß du übertrieben hast.«
»Ich habe übertrieben, weil ich eine gute Geschichte erzählen wollte. Glaub mir das, bitte!«
»Und daß er sich die Fingernägel mit einem weißen Stift putzt, das hast du auch erfunden? Und daß er sich die Hände mit Sägemehl und Terpentin wäscht, auch? Und daß er mit seinem Bruder in einem Haus lebt und mit ihm nicht ein Wort redet, schon seit fünf Jahren nicht, und daß die Hälfte des Hauses sauber, die andere Hälfte dreckig ist, das hast du auch erfunden?«
»Ja«, log ich, »das habe ich alles erfunden. Du kennst mich doch!«
»Diesmal hast du die Wahrheit gesagt, das denke ich.«
»Ich sage nie die Wahrheit, wenn ich etwas erzähle.«
»Beweise es mir!«
»Was um Himmels willen soll ich beweisen? Daß ich nicht die Wahrheit gesagt habe? Ich schwöre, ich habe nicht die Wahrheit gesagt und nichts als nicht die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe. Wie soll einer beweisen, daß er nicht die Wahrheit sagt? Denk einmal darüber nach!«
»Beweise mir, daß dein Freund nicht so verrückt ist, wie du erzählt hast! Nur das will ich wissen.«
»Der Beweis liegt darin«, wand ich mich, »daß die Wirklichkeit nie nach einem Klischee abläuft. Was ich dir von Chucky und seinem Bruder erzählt habe, ist aber ein Klischee …« – Während ich, jeden zusammenhängenden Gedanken zerpflückend, weiter auf sie einredete, wurde mir klar: Sie hatte natürlich recht. Wenn es einen gab, dem alles zuzutrauen war, dann Chucky. Und wenn es noch jemanden gab, dann die Schwäbin. »Hör zu«, sagte ich, »nur damit du dich beruhigst: Ich gehe jetzt gleich in die Bockenheimer und rede mit der Schwäbin, und wenn Chucky noch dort ist, rede ich auch mit ihm. Ist das in deinem Sinn?«
»Nein, das ist nicht in meinem Sinn«, sagte sie. »Wenn, gehe ich. Einer Schwangeren tut niemand etwas.« – Sei dir nicht so sicher, dachte ich, und darüber erschrak nun ich, und zwar so heftig, daß es mir die Hand vor die Stirn riß. Sie sah es und wagte kein Wort mehr.
Am Nachmittag sagte sie: »Ich habe mir das alles überlegt. Bitte, setz dich jetzt hin und hör mir zu! Es ist gar nicht so schwer, sich in die beiden hineinzudenken. Hörst du mir zu?«
»Natürlich höre ich dir zu.«
»Unterbrich mich aber nicht! Zuerst zu ihr: Es klingelt. Es klingelt auf eine komische Art, so, wie du erzählt hast, einmal und sechsmal oder so, sie öffnet, draußen steht dieser Chucky. Was wird er sagen? Sag du! Was wird er sagen?«
»Ich weiß nicht. Er wird sagen, er sei hierhergeschickt worden. Seinen Namen wird er, schätze ich, nicht gleich sagen.«
»Von wem hierhergeschickt worden?«
»Von mir.«
»Von Sebastian Lukasser. So. Was denkt sie? Sie denkt, ein Arschloch schickt ein anderes Arschloch.«
»Das wäre eh das beste.«
»Im günstigsten Fall denkt sie das. Sie fragt ihn, was er will. Er zeigt ihr das Foto von der Mohnhaupt und sagt, er will bei denen mitmachen. Tut er das?«
»Ich schätze, ja.«
»Und weiter?«
»Sie sagt, danke, das ist nicht meine Abteilung.«
»Ich glaube eben nicht, daß sie das sagt.«
»Sie ist KBWlerin, Dagmar, die halten die RAFler doch für kleinbürgerliche Trotteln.«
»Im Gegenteil. Sie bewundern die RAF in Wahrheit. Glaub’s mir doch, um Himmels willen! Red’ doch nicht über etwas, von dem du keine Ahnung hast! Sie bewundert die RAF-Genossen, weil die etwas tun. Sie teilt die Menschheit ein in Genossen und Idioten, und die Idioten in Idioten und nützliche Idioten. Ähnlich wie du.«
»Ähnlich wie ich? Warum ähnlich wie ich? Erstens habe ich zum Beispiel schon keine Genossen …«
»Du teilst die Menschheit eben ein in solche, die die gleichen Bücher gelesen haben wie du, und in Idioten.«
»Das wäre ja eine einigermaßen
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