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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ist als die Schwäbin, der wird genau darauf reinfallen. Aber nicht die Schwäbin! Die denkt sich: Gerade den Lukasser machen sie zum Kontaktmann, und zwar gerade aus dem Grund, weil sich eben jeder Genosse denkt, jeden anderen wird der Verfassungsschutz zum Kontaktmann machen, nur nicht den Lukasser. Das Theater, das der Lukasser aufgeführt hat, wird sie sich denken, all die Mühe, die sich der Lukasser gegeben hat, um vor mir unsympathisch zu wirken, das alles hat doch nur einen Zweck gehabt, nämlich: unverdächtig, unverdächtiger, am unverdächtigsten zu erscheinen. Die anderen Genossen, wird sie sich denken, die werden darauf reinfallen, die werden diesen eingeschleusten Bauernproletarier-Chucky vergöttern und werden den Verstand ausschalten. Ich aber nicht. Ich nicht! So denkt sie. Ich kenne sie doch, die blöde Kuh! Und, Sebastian, bilde dir ja nicht ein, die redet nur! Du weißt gar nichts über Leute wie sie. Mein Gott, wird sie stolz sein, daß sie genauso klug ist wie der Genosse Stalin! Und noch mehr stolz wird sie sein, daß der Verfassungsschutz sie für RAF-würdig hält!«
    Drei Tage später waren wir beide soweit, daß wir es nicht mehr wagten, die Wohnung zu verlassen. Wir saßen in der Küche und warteten, daß es an der Tür klingelt. Oder schlimmer: klopft. Oder am schlimmsten: daß die Tür einfach eingetreten wird.
8
    Ich hatte Carl diese Geschichte vorher nie erzählt. Nicht einmal in Andeutungen.
    »Ich ahnte natürlich«, sagte er, »ich wußte, es war etwas mit Dagmar und dir geschehen. Margarida war neugierig. Sie drängte mich, ich solle euch ausfragen. Tu’s doch selber, sagte ich. Sie traute sich nicht. Das hat mir schwer zu denken gegeben. Margarida mit ihrem Instinkt! Wenn die sich einmal etwas nicht traut, mein lieber Freund, dachte ich mir, dann hat es weit herunter geschneit. Da traute ich mich auch nicht mehr. Hättet ihr uns die Wahrheit gesagt?«
    »Wahrscheinlich nicht. Ich hätte mich geschämt. Und Dagmar auch.«
    »Ihr habt mit niemandem darüber geredet? Habt ihr keine Freunde gehabt? So sehr wart ihr ineinander verkrallt?«
    Erst viel später habe ich mit jemandem darüber gesprochen. Mit Maybelle habe ich darüber gesprochen. Da lebte ich in Amerika, und David hatte, weit weg von seinem Vater, bereits seinen zweiten Geburtstag gefeiert. Da kam mir die Geschichte so unwahrscheinlich vor, und obwohl die Sehnsucht mich immer wieder in Wellen und Schüben erfaßte und ich dem Weh der Trennung von Dagmar und dem kleinen Buben pufferlos ausgesetzt war, auch so lang vergangen, so fremd, so unerwartet seltsam, daß es mir schwerfiel, mich darin als einen der Beteiligten zu erkennen, und ich meine Erzählung kopfschüttelnd mit »Ich war nicht bei mir selbst« unterbrach. Ich war nicht bei mir selbst gewesen, und Dagmar war nicht bei sich selbst gewesen – die Dagmar, nach der ich mich manchmal so sehr sehnte, daß sich meine Bauchmuskulatur zusammenkrampfte wie unter Strom, die hatte mit dem hysterischen Wesen in dieser Geschichte wenig gemeinsam, und wenn ich den Reigen der Paranoia defilieren ließ, schienen mir auch Chucky und die Schwäbin wie von einem fremden Willen gelenkt. Maybelle sagte: »Ja, von deinem Willen gelenkt nämlich, von deinem und dem Willen deiner Frau, denn wie ich aus deiner Geschichte schließe, hatten die beiden gar nichts damit zu tun, und die, vor denen ihr euch gefürchtet habt, die waren eure Erfindungen.«
    »Mit Maybelle habe ich darüber gesprochen«, sagte ich.
    »Von ihr kenne ich nur den Namen«, sagte Carl. »Sie ist die Wächterin in deinem Amerika?«
    In der ersten Nacht, die wir gemeinsam verbrachten, erzählte ich Maybelle die ganze Geschichte. Das war nicht in Brooklyn, sondern ein Stück im Landesinneren, den Hudson hinauf, in einem Motel mit einer Fassade aus türkisschimmerndem Metall, kurz vor Hyde Park, wo wir uns am nächsten Tag das Haus und die Bibliothek von Präsident Franklin Delano Roosevelt ansehen wollten. Vor unserem Fenster lag die prunkvolle Landschaft des Hudson Valley.
    »Was geschah weiter?« fragte sie.
    Ich erzählte, daß wir uns schließlich in der Nacht aus dem Haus geschlichen hätten und in Dagmars Auto zu mir nach Hause, nach Österreich, gefahren seien, um herauszubekommen, ob Chucky inzwischen zurückgekehrt war; daß wir in Abständen von zwei Stunden an seinem Haus vorbeigefahren, daß wir aber weder Chucky noch seinen Bruder dort gesehen hätten, auch die Hunde nicht, und auch Chuckys Kombi nicht.

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