Abendland
Also seien wir davon ausgegangen, daß sich Chucky noch in Frankfurt aufhielt.
»Habt ihr deine Mutter besucht?« fragte Maybelle.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich wollte sie nicht hineinziehen«, wehrte ich mich. – Von allen meinen Leuten interessierte sich Maybelle am meisten für meine Mutter, in ihren Fragen spielte sie sich zu ihrer Anwältin auf. Sie prophezeite, es werde die Zeit kommen, da ich meine Mutter als das große Rätsel in meinem Leben erkennen werde. »Wir hielten es immerhin für möglich, daß das Haus meiner Mutter beobachtet wird«, argumentierte ich und bekam den Tonfall der Rechtfertigung nicht heraus. »Dagmar hatte sich inzwischen so tief hineingesteigert, daß sie es sogar für möglich hielt, daß Chucky und ein paar von den Frankfurtern im Haus auf uns warteten. Ich sagte ihr, daß ich, wenn es wirklich so wäre, natürlich die Verpflichtung hätte, meiner Mutter beizustehen, weil sie ja schließlich mit alldem nichts zu tun habe. Dagmar fing zu schreien an. Ich müsse mich entscheiden, zu welcher Familie ich stehe, zu meiner alten oder zu meiner neuen. Ich nahm ihr das nicht übel. Sie hatte Angst um das Baby.«
»Und zu welcher Familie wolltest du stehen?« fragte Maybelle.
»Ich habe ja so nicht gedacht. Und ich habe nicht eine Sekunde gedacht, meine Mutter könnte in Gefahr sein. Ich wollte ihr nur nicht alles erklären müssen.«
Ich wollte nicht, daß meiner Mutter mit einemmal klar würde, was für eine Halde an eigenem Leben ich inzwischen aufgehäuft hatte. Ich war schon bei meinem letzten Besuch an Weihnachten so ungeduldig mit ihr gewesen, ich hatte mich zusammennehmen müssen, damit ich nicht mit den Augen rollte, wenn sie etwas sagte, und wenn sie etwas sagte, gelang es mir nicht, ihr zuzuhören. Sie ging mir auf die Nerven, das ist leider wahr.
Ich rief von einer Telefonzelle aus an, während Dagmar im R4 wartete. Meine Mutter meldete sich, und ihre Stimme klang ruhig und zufrieden und ganz bestimmt nicht so, als würde jemand mit einer Maschinenpistole hinter ihr stehen. Ich sagte nichts und legte auf.
Dagmar hatte viel zuviel Angst, um nach Frankfurt zurückzukehren. Auch mir war der Gedanke nicht geheuer. Wir fuhren die paar Kilometer über die Grenze nach Liechtenstein und übernachteten in Vaduz in einem Hotel. Dort beruhigte sie sich etwas, und wir konnten uns überlegen, was wir tun sollten.
Sie war es, die schließlich den Vorschlag machte. »Ruf deinen Freund in Innsbruck an«, sagte sie. »Er soll uns helfen.«
Und Carl und Margarida halfen uns. Sie stellten keine Fragen; Carl sagte, er werde einen Platz in der Entbindungsstation der Klinik organisieren. Ich wußte, es wird alles gut.
Dagmar und ich schliefen in der Anichstraße in »Sebastians Zimmer«, und als die Wehen einsetzten, fuhr uns Carl ins Krankenhaus, und Carl und Margarida warteten in den Gängen, während ich im Kreißsaal Dagmars Rücken massierte, bis mir mein eigener so weh tat, daß ich meinte, ich werde ohnmächtig. Auf Dagmars ausdrücklichen Wunsch trugen sich Carl und Margarida als Davids Paten ein. Ja – und dann heirateten Dagmar und ich in Innsbruck. Auch das hat Carl organisiert. Und er und Margarida waren unsere Trauzeugen.
Drei Monate wohnten wir bei Carl und Margarida in der Anichstraße – die erste Zeit gemeinsam mit ihnen, später waren wir allein in der Wohnung, weil die beiden nach Lans in die Villa zogen, die Stadtwohnung behielten sie noch eine Weile; wir sahen sie aber fast jeden Tag. Als wir schließlich aufbrachen – ich (ohne Führerschein) am Steuer, Dagmar auf dem Rücksitz, das Baby neben sich in dem Körbchen, das uns Margarida geschenkt hatte –, weinte Margarida so sehr, daß sich ihr zerknittertes Gesicht überschwemmte, und Carl würde wohl auch geweint haben, wenn er einer gewesen wäre, der das gekonnt hätte.
Von unserer Paranoia waren wir geheilt; aber wir waren, wie wir waren, und nach einiger Zeit begannen wieder die Streitereien, und wir waren unglücklich und wußten nicht, wie wir es anstellen sollten, andere zu werden. Als David noch nicht ein Jahr alt war, warfen wir das Handtuch. Das ist der richtige Ausdruck. Wir haben aufgegeben. Dagmar wollte nicht mehr. Scheidung. Ich zog aus Frankfurt fort, ein paar Wochen wohnte ich bei meiner Mutter in Nofels.
Maybelle hatte gesagt: »Schön, jetzt weiß ich etwas von dir.«
Mit richterlicher Ungeduld faßte Carl zusammen: »Es hatte kein Grund bestanden, uns nicht davon zu erzählen.« Und
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