Abendland
Bald darauf geriet Lawrence beim Verschieben zwischen zwei Waggons. Er starb, ehe die Ambulanz zur Stelle war. Maybelle zog mit einer Frau zusammen, die Mariana hieß und als Kind mit ihren Eltern aus Puerto Rico nach New York gekommen war und die auch eine kleine Tochter hatte, um die sie sich allein sorgte. Mariana vermittelte Maybelle einen Job in einer Bäckerei in Greenpoint, wo sie eben erst gekündigt hatte, weil ihr etwas Besseres in einer Großküche der Roy-Stimson-Stiftung an der Queens Plaza angeboten worden war. Nun fuhr Maybelle jeden Morgen um drei mit dem Fahrrad zu ihrer Arbeit, mittags war sie fertig und löste Mariana bei den Kindern und am Herd ab. Maybelle wollte keine feste Beziehung mehr eingehen, mit ihren Liebhabern traf sie sich in deren Wohnungen oder, wenn es dort nicht günstig war und sie Geld übrig hatten, in Hotels. Als Becky sechzehn war, stellte sie ihrer Mutter einen Mann vor, der war zwanzig Jahre älter als sie – also gerade ein Jahr jünger als Maybelle –, den wollte sie heiraten. Er hieß Gil Clancy, betrieb einen Boxclub in der Myrtle Avenue im Süden von Williamsburg und war Manager und Trainer einiger bekannter Boxer, zum Beispiel des Halbschwergewichts Horace Hal Carrol oder des Superleichtgewichts Adolph Pruitt. Maybelle verhörte Gil eine Stunde lang, endlich sagte sie: »Wenn du Becky haben willst, mußt du mich mit dazu nehmen.« Gil war einverstanden, und so gab sie den Job bei der Bäckerei, in der sie sich wohl gefühlt hatte, auf und übersiedelte mit ihrer Tochter und ihren Siebensachen von Queens nach Brooklyn. Das Zusammenleben mit ihrem Schwiegersohn habe sich von Anfang an praktisch und harmonisch gestaltet, Konflikte habe es so gut wie nie gegeben, vor allem auch deshalb nicht, weil sie ein Zimmer mit eigenem Eingang bewohnte. Maybelle arbeitete die Steuererklärungen aus, schrieb Rechnungen und bezahlte Rechnungen und verwaltete die Kasse des Boxclubs; außerdem organisierte sie den Trainingsplan der Boxer, die sich den Ring im Erdgeschoß und im ersten Stock teilten und die drei Räume im Keller, wo die Hantelbänke standen und der Butterfly und die Bizeps- und die Trizepsmaschinen und wo die Punchingballs und die Sandsäcke von der Decke hingen; und sie kümmerte sich obendrein um die Öffentlichkeitsarbeit, was die Journalisten mehr als nur verwunderte, aber auch ihre Ohren spitzte, denn so etwas hatte es noch nie gegeben: daß sich eine Frau um die Belange von Boxern kümmerte. Der erste Kampf, zu dem sie ihr Schwiegersohn mitnahm, war ein nicht angemeldeter Halbschwergewichtskampf, er fand in einer ehemaligen Turnhalle statt, die zum Teil unter der aufsteigenden Brooklyn Bridge lag und einer Großgärtnerei als Pflanzenlager diente, was wenigstens einen Vorteil hatte, nämlich daß die Wachstumslampen ein gutes Licht gaben. Solche Kämpfe hatten den Zweck, junge Boxer, die noch keine Lizenz hatten, zu rekrutieren, die Regeln wurden dabei nicht allzu streng ausgelegt; nichts anderes, als rekrutiert zu werden, konnte bei diesen Fights gewonnen, viel aber verloren werden. Sie habe, erzählte mir Maybelle, den Kampf schlichtweg wahnsinnig gefunden. »Ich saß weit vorne und hatte freie Sicht auf alle Wunden.« Schon nach der ersten Runde wollte sie gehen. Sie blieb bis zum K.o. in der achten. Der Kopf des am Boden liegenden Boxers ragte unter den Seilen hindurch über die Kante des Rings; er sah aus wie ein blutig geraspelter Stumpf. Sie schaute sich daraufhin lange Zeit keine Kämpfe mehr an. Im Gym beobachtete sie das Sparringstraining, aber da waren die Köpfe unter gepolsterten Lederhelmen geschützt. Sie hörte zu, wenn Gil mit seinen Boxern diskutierte, und sie gewann den Eindruck, ihr Schwiegersohn sei ein guter Lehrer. Aus seinem Mund klang die schärfste Kritik wie ein Lob. Bald ging sie auch wieder zu Kämpfen mit, freute sich nach einem schönen Fight und ärgerte sich nach einem dummen, konfusen; und wenn einer »aus der family« kämpfte, schlug ihr das Herz bis in den Hals.
Als Maybelle und ich zum erstenmal allein in einem Hotelzimmer waren und sie mir das Hemd über den Kopf zog, war sie fünfzig und ich zweiunddreißig. Sie trug ihr Haar, wie es schon seit einigen Jahren nicht mehr Mode war, im sogenannten Afro-Look, nicht kraus, sondern in Locken, wie um den Daumen gewickelt, und sie hatte sie indianerschwarz gefärbt. Sie trainierte täglich an den Geräten im Keller des Gym, immer an dem, das gerade frei war; sie hatte einen sehnigen
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