Abendland
diesen Mann nachgedacht«, sagte sie. »Ich werde dir einiges über ihn verraten.«
»Was?« rief ich aus. »Wie kannst du über ihn nachdenken? Du weißt ja gar nichts von ihm! Ich habe dir ja gar nichts von ihm erzählt! Du hast mich ja nicht ausreden lassen!«
»Ich brauche nicht mehr über ihn zu wissen, als ich weiß«, fauchte sie. In ihrem Gesicht stand überdeutlich eine Feindseligkeit, die absurd, weil durch nichts, aber auch gar nichts begründbar und deshalb komisch war, so daß es mir den Mund zu einem Grinsen verzog. Da brach es aus ihr heraus, ein Gewitter, eine Litanei von Beschimpfungen, ich hielt mir die Ohren zu wie ein bockiger Zehnjähriger und streckte ihr hinter dem Rücken die Zunge heraus und meinte damit meinen Freund und Wohltäter gegen ihre Angriffe zu verteidigen. Von da an haben wir nie mehr von Carl gesprochen, und von meiner Familie habe ich auch nicht mehr erzählt
Merkwürdig ist, daß ich bei Carl, als ich ihm von Maybelle erzählte, eine ähnliche, freilich weniger effektvolle Reaktion zu bemerken glaubte. Sein »Sie ist die Wächterin in deinem Amerika?« war sehr herablassend. Aber ich meinte ihn zu durchschauen: Die Verachtung war gespielt, um etwas anderes zu verbergen, nämlich Eifersucht. Maybelle hatte nicht hinter dem Berg gehalten. Sie hatte mir zum Abschluß ihrer Predigt ihren Zeigefinger mit dem blutrot lackierten Nagel auf die Stirn gedrückt und gesagt: »Gut, daß du in Amerika bist! Hier kann er dir nichts tun!«
5
Am Morgen des 15. September 1982, meinem zweiunddreißigsten Geburtstag, klopfte Mr. Albert an meine Tür und sagte, Mrs. Houston sei unten, sie habe Donuts und frische Bagels aus Friedman’s Bakery mitgebracht und wolle gemeinsam mit uns frühstücken, der Kaffee sei bereits fertig. Er überreichte mir ein Päckchen, das er hinter seinem Rücken versteckt hatte, und sagte: »Happy birthday, Mr. Lukasser!«
Seit drei Wochen hatte ich Maybelle nicht gesehen. Sie hatte ihre Haare strecken und umfärben lassen, sie hingen in verwegenen Wellen in ihre Stirn und schimmerten schwarz, als hätte sie sie in Öl getaucht. Sie umarmte mich, hielt mich lange fest, ich spürte ihre Fingernägel über meinen Nacken streichen, sie küßte mich oberhalb des Schlüsselbeins auf den Hals. »Ich dachte«, flüsterte sie, »vielleicht bereitet es dir eine Freude, mit Missis Maybelle Houston und Miss Mercedes Benz ein Stück den Hudson hinaufzufahren.«
Mr. Alberts Geschenk war ein aufziehbarer Wecker in einem Gehäuse aus eloxiertem Aluminium, das schlichteste, schönste Ding dieser Art, das ich je gesehen habe (es steht heute noch auf meinem Schreibtisch). »Weil Sie mich immer wieder gefragt haben, wie spät es ist«, rechtfertigte er sich verlegen und fügte rasch mit einem Blick auf Maybelle hinzu: »Aber das hat mich nicht gestört.«
Gleich nach dem Frühstück fuhren Maybelle und ich los.
»Willst du dich ans Steuer setzen?« fragte sie.
»Ich habe keinen Führerschein«, sagte ich.
»Du hast keinen Führerschein!« rief sie. »Das ist pervers! In Amerika meint man, das sei eine Sünde, das muß ich dir schon sagen. Ich werde dich morgen anmelden!«
»Aber ich kann fahren«, sagte ich. »Ich bin sogar ein sehr guter Autofahrer.«
Sie lenkte den Mercedes auf den schmalen Pannenstreifen des West Side Express Highway und hielt an. »Also, fahr!«
»Durch die Stadt? Ich würde lieber erst fahren, wenn wir draußen sind.«
»In der Stadt ist die Wahrscheinlichkeit, daß wir angehalten werden, geringer«, sagte sie.
Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Mercedes durch den Verkehr von Manhattan zu lenken und hinter Harlem über die George Washington Bridge auf die New-Jersey-Seite und hinaus aus dem Häusermeer. Als wir hinter Tappan wieder in den Staat New York hineinfuhren, schob Maybelle ihren Sitz zurück, schlüpfte aus ihren Highheels und legte die Füße unter die Windschutzscheibe über dem Handschuhfach. Sie war gut gelaunt und sang mir Lieder vor, Gospels, Blues, aber auch einen Countrysong von Hank Williams – Lost On The River –, das Lied wurde nach diesem Ausflug zu unserer Hymne.
Am Nachmittag, als die Sonne hinter der Stadt Poughkeepsie verschwand und die Dämmerung über den Catskill Mountains heraufzog, sagte Maybelle: »Was hältst du davon, wenn wir erst morgen in die Stadt zurückfahren? Dann haben wir noch Zeit, in Hyde Park das Haus des besten Präsidenten anzusehen, der je Amerika regiert hat.«
»Und wo übernachten wir?« fragte
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