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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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meiner Recherche nun auch meine Tagesabläufe in mein Heft. Darin lese ich den Ausdruck »freie Tage«. Damit waren die Tage gemeint, in denen mich Maybelle nicht besuchte. Wenn ich die beiden Worte heute lese, erschrecke ich; damals hatte ich mir nichts dabei gedacht.
5
    Unsere zweite gemeinsame Autoreise unternahmen Maybelle und ich im Frühling 1983. Für meine Geschichten wäre diese Reise nicht unbedingt nötig gewesen. Über Niccoló Paganini hatte ich genügend Stoff, und über Robert Johnson hatte mir Maybelle alles erzählt, was ich als Background für eine Story brauchte; außerdem lagen im Hunter College genügend Informationen vor, um ein sehr dickes Buch über diesen Blues-Man zu schreiben. Als ich Sarah Jane und Fabian mitteilte, ich wolle mir die Gegend in Texas ansehen, wo sich Johnson herumgetrieben habe – und sie bei dieser Gelegenheit auch gleich um einen Vorschuß auf die Spesen anging –, fanden sie das eine großartige Idee, und Sarah Jane schlug vor, Maybelle und ich sollten uns Zeit lassen und vorher in Alabama aussteigen und uns über die Heimat von Hank Williams erkundigen, der stehe ja auch auf meiner Liste. Sie wußte nicht, daß Maybelle in Alabama aufgewachsen war und daß sie über diesen weißesten aller weißen Sänger des Blues wahrscheinlich mehr wußte als alle Mitarbeiter des ACE zusammen, die tief in ihrer linken Herzkammer in Hank Williams ohnehin so etwas wie den Klassenfeind, auf jeden Fall einen ziemlich reaktionären Knochen sahen.
    Einen Tag vor unserer Abreise schlüpften Maybelle und ich, wie wir es immer taten, mittags durch den Bauzaun hinter der Hühnerbraterei und spazierten, gegen die Sonne zwinkernd, über den freien Platz in Richtung Carlton Avenue, als uns fünf junge schwarze Männer entgegenkamen. Ich bemerkte nicht gleich, daß sie es auf uns, das heißt auf mich, abgesehen hatten. Maybelle hingegen bemerkte es sofort. Sie blieb stehen, sagte: »Es ist besser, wir kehren um, Luke.« Ich fragte sie, was sie meine, da traf mich ein Gegenstand am Kopf. Es war ein gelbes Plastikfeuerzeug. Einer der Burschen hatte es nach mir geworfen. Maybelle lief ein paar Schritte zurück zum Bauzaun, dort blieb sie stehen, die Arme verschränkt. Merkwürdigerweise drehte sie mir ihre Seite zu, ihr Gesicht war ebenfalls abgewandt, doch so, daß sie alles aus den Augenwinkeln beobachten konnte. Es sah aus, als habe sie mit dem, was hier gleich geschehen würde, nichts zu tun. Einer der Burschen trat vor mich hin. Er trug eine ärmellose Steppjacke, grellrot, und eine Baseball-Mütze. Er ballte eine Faust, streckte Daumen und Zeigefinger seiner Rechten so, daß die Hand einen Revolver darstellte, und drückte mir den Zeigefinger zwischen die Augen. Er knickte den Daumen ab und fauchte: »Pfuuuw!« Er bückte sich, hob das Feuerzeug auf, und fragte in übertrieben höflichem Ton, ob es mir gehöre. Ich antwortete nicht. Nicht weil ich Angst hatte, sondern weil ich auf so eine Unverschämtheit nicht gefaßt war. Er fragte, ob ich taub sei. Ich sagte, er solle mich bitte weitergehen lassen. Er betrachtete das Feuerzeug, drehte es in der Hand. Er sagte, es sei seines. Er rief zu den Kumpanen in seinem Rücken, er habe endlich den Typen gefunden, der ihm dauernd die Feuerzeuge klaue. Die lachten und kamen näher und umringten mich. Einer trat mir mit seinen klobigen weißen Schuhen auf den Fuß, was sehr weh tat. Ich sagte, wenn sie etwas wollten, Geld zum Beispiel, sollten sie es sagen, ich hätte nicht viel bei mir, aber was ich hätte, könnten sie gern haben. Ein anderer boxte mich in den Rücken. Ich sei schließlich der Dieb, sagte er, nicht sie seien die Diebe. Ein dritter trat mir ebenfalls auf den Fuß. Und nun wetteiferten die fünf miteinander im Mir-auf-die-Füße-Treten. Ich versuchte, ihren Tritten auszuweichen, und hüpfte dabei herum wie eine Marionette an Fäden. Der mit dem Feuerzeug sagte, ich solle mich doch nicht so aufführen, hier sei schließlich kein Zirkus, außerdem sei eine Lady in der Nähe, ob ich denn überhaupt keinen Stolz besitze, man hätte ihm immer erzählt, der weiße Mann sei besonders stolz, und jetzt müsse er eine solche Enttäuschung erleben. Ich sah zu Maybelle hinüber, sie stand immer noch in der Nähe des Bauzaunes und zeigte uns ihre Seite. Sie machte keine Anstalten, mir beizustehen. Ich rief ihren Namen, rief: »Maybelle, sag ihnen, sie sollen verschwinden! Sag ihnen, sie sollen mich in Ruhe lassen!« Einer der Burschen wischte mir

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