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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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mit der Hand über den Kopf. Es war kein Schlag, keine Ohrfeige, sollte nicht weh tun, sollte nur Verachtung zeigen. Die anderen taten wie er. Sie traten mir noch einmal auf die Füße, jeder noch einen Tritt, nicht mehr so heftig wie zuvor, ich versuchte auch gar nicht mehr, ihren Turnschuhen auszuweichen, endlich tänzelten sie lachend davon, hinüber zur Hühnerbraterei, hoben, als sie an Maybelle vorbeigingen, zum Gruß einen Zeigefinger an die Stirn und riefen: »Lady! Gott sei mit dir, Lady! Gott schütze dich!«
    Maybelle bewegte sich immer noch nicht von der Stelle, aber sie hatte ihren Kopf nun ganz von mir abgewandt. Ich ging über die heißen Betonplatten zu ihr hinüber, überschüttete sie mit Vorwürfen. Meine Kehle brannte, und mein Adamsapfel krampfte, weil ich soviel Gewalt aufbringen mußte, das Heulen zu unterdrücken. Sie antwortete nicht.
    »Es sind deine Leute«, schrie ich sie an. »Sie wollten mich demütigen, weil ich mit dir zusammen bin. Eine schwarze Frau mit einem weißen Mann! Das ist Mode? Ist das Mode?« – Sie antwortete nicht. – » Du hast gesagt, das ist Mode. Das hast du gesagt. In Brooklyn ist es offensichtlich nicht Mode.« – Sie antwortete nicht. – »Sie hätten mich in Ruhe gelassen, wenn du nur ein Wort gesagt hättest. Genau darauf haben sie es angelegt. Daß du etwas sagst. Sie wollten sehen, ob eine schwarze Frau einen weißen Mann in Schutz nimmt.« – Sie antwortete nicht. – »Ich verstehe nicht, warum du nicht ein Wort gesagt hast, Maybelle. Ich verstehe es einfach nicht! Freut es dich, wenn du zusiehst, wie mich deine Leute demütigen? Ist es dir egal? Das stimmt doch nicht, Maybelle. Sag doch etwas!« – Sie sagte nichts. – »Als dich einer von meinen Leuten gedemütigt hat, da habe ich etwas gesagt, da habe ich dich verteidigt …«
    Und so weiter. Wir standen auf einer zerborstenen Betonplatte, aus deren Rändern und Spalten verrostete, verbogene Armierungseisen ragten, ich redete, sie schwieg. Das ging eine halbe Stunde so. Sie hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen, schloß die Augen. Die Kerben neben ihrem Mund schienen tiefer als sonst, und ihr Mund war schöner, als ich ihn je gesehen hatte, aber in der gleißenden Frühlingssonne sah sie älter aus als sonst, und das mißfiel mir, und ich schämte mich, weil ich auf einmal einen Ekel vor ihr spürte, und ärgerte mich über mich selbst, und auch deshalb schrie ich sie an. Sie ging in die Hocke, weil ihr vom Stehen der Rücken weh tat. Sie sagte: »Mir tut der Rücken weh, Luke, ich muß mich setzen, versteh das bitte nicht falsch.« Irgendwann sagte sie: »Laß es jetzt gut sein, Luke. Ich habe Hunger. Gehen wir.«
    Wir gingen zum Park und aßen und tranken, was sie mitgebracht hatte. Und hinterher rauchten wir gemeinsam eine von ihren Benson & Hedges. Sie streichelte meine Wange, und ich sah ihr an, daß ihr Herz schwer war. Ich umarmte ihren Kopf und sagte ihr, daß sie gut rieche.
    Schon aus dem Abstand von einem halben Tag betrachtet, war die Sache eine Lappalie. Die Burschen hatten einen Spaß mit mir getrieben, ein böser Spaß war es gewesen, aber mehr nicht. Sie hatten mich nicht körperlich verletzen wollen. Sie hatten mir zeigen wollen, daß ihnen ein weißer Mann zusammen mit einer schwarzen Frau ein Ärgernis war. Mir kam auch der Gedanke, einer der Burschen könnte derselbe sein, der an Maybelles Tür geklopft hatte, als ich bei ihr gewesen war. Das würde auch erklären, warum sich Maybelle aus der Sache herausgehalten hatte. Ja, einer von denen war ihr ehemaliger Liebhaber, dachte ich. Gleich, welcher der fünf es war, keiner von denen war älter als achtzehn – Maybelle hatte einen Liebhaber gehabt, der über dreißig Jahre jünger war als sie? Warum nicht? Wenn eine Frau, dann Maybelle. Sie wollte sich nicht gegen ihn wenden. Weil sie seinen Schwanz im Mund gehabt hatte, wie sie meinen Schwanz im Mund gehabt hatte. Weil sie seine Hand genommen und sich seine Finger in ihre Pussy gesteckt hatte, wie sie es mit meinen Fingern getan hatte. Deshalb hatte sie nichts gesagt, deshalb hatte sie nicht für mich Partei ergriffen. Sie hat ihn für mich verlassen, und als seine Revanche gestand sie ihm dieses kleine böse Spiel zu.
    Ich nahm mir vor, einfach so zu tun, als wäre nichts gewesen. Es gelang mir natürlich nicht. Als wir am nächsten Morgen aufbrachen und in Maybelles Mercedes (seit einem knappen Monat besaß ich einen Führerschein) über New Jersey, Pennsylvania, West Virginia

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