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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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einschalten.«
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    Carls Stimme auf dem Band: »Ich kann nicht behaupten, daß mir dieses Stück viel bedeutet, aber es ist nun einmal das einzige Stück, das ich von meinem Vater habe. Valerie hat den Brief nach dem Ableben unserer Mutter bei deren Sachen gefunden und ihn mir gegeben, als ich 1945 nach Wien zurückkehrte.« (Valerie ist Carls Halbschwester, achtzehn Jahre jünger als er, Tochter aus zweiter Ehe seiner Mutter. Sie lebt heute in Dänemark.) – »Daß meine Mutter den Brief durch all die Jahre aufgehoben hat, hat mich gewundert. Sie hat von meinem Vater nie gesprochen. Jedenfalls nicht mit mir. Mit meinem Großvater oder meiner Großmutter bestimmt nicht. Mit Valerie ebenfalls nicht. Was sollte sie auch mit ihr über meinen Vater sprechen, wenn sie nicht einmal über deren Vater mit ihr sprach! Ein Gespenst war mein Vater, und ein Gespenst war auch Valeries Vater. Ich bezweifle, daß meine Mutter diesen Brief je zu Ende gelesen hat. Der Brief lag also irgendwo herum. Was tun damit? So hat sie ihn halt zu ihren Sachen gelegt, in ihren Sekretär – den sie sich als junge Frau von dem einzigen Geld, das ihr je aus eigener Arbeit zugeflossen war, gekauft hatte und der erstaunlicherweise über den Krieg gerettet worden war. Und dort war er liegengeblieben, durch die Jahre. Bis man ihn nach ihrem Tod fand. So erklärte ich mir das. Und später lag er bei meinen Sachen. Ebenfalls durch die Jahre. Irgendwann habe ich ihn Margarida gezeigt. Sie war gerührt. ›Deine Mutter hat ihr Leben lang an deinen Vater gedacht‹, sagte sie. Ich sagte: ›Nein, das hat sie gewiß nicht. Und bitte nimm das Stück Papier nicht in die Hand, als wär’s eine Seite aus dem Originalmanuskript vom Hamlet!‹ Margarida hat den Brief rahmen lassen und in meinem Arbeitszimmer an die Wand gehängt. Mit der Zeit begann die Schrift auszubleichen. Ich dachte: Sieh an, mein Vater löst sich in Licht auf! Und das nicht einmal metaphorisch gemeint. Gibt’s etwas Friedsameres? Aber Margarida hat das Stück unter dem Glas hervorgeholt und in meiner Dokumentenmappe versorgt. Aber nicht in ein eigenes Fach hat sie ihn gesteckt, sondern unter meine Geburtsurkunde. ›Ja, das ist wirklich ein würdiger Platz‹, lobte ich sie. Bis heute habe ich den Brief nie mehr hervorgeholt.
    Meine Mutter war siebzehn, als sie meinen Vater heiratete. Während seiner Zeit an der Militärakademie in Wien hatten sie einander kennengelernt. Mein Großvater und meine Großmutter sahen die Beziehung von Anfang an nicht gern. Das Soldatendasein schickte sich ihrer Meinung nach für einen intelligenten erwachsenen Mann nicht. Meine Mutter war ihr einziges Kind, und sie hätten lieber einen Zivilisten als Schwiegersohn gesehen und den auch lieber erst einige Jahre später, am besten einen mit kaufmännischen Interessen, der irgendwann das Geschäft hätte übernehmen können, ohne daß man ihn vorher zurechtbiegen und hinterher ständig kontrollieren mußte. Daß ihr Schwiegersohn einen Adelstitel mitbrachte, bedeutete ihnen weniger als nichts. Mein Großvater war gegenüber den Monarchien immer kritisch eingestellt gewesen, und meine Großmutter sah es nicht anders. Eher noch radikaler. Zeitweise jedenfalls. Hing von ihrem Blutdruck ab. Als mein Vater starb, hielt sich die Trauer der beiden in Grenzen. Sie wußten nichts über ihn, und er hatte ihnen nie Gelegenheit gegeben, ihn näher kennenzulernen. Kein Interesse hier, kein Interesse dort. Ich nehme an, mein Vater war schlicht und einfach ein nichtssagender Mensch gewesen, einer, über den es eben nichts zu sagen gab. Und deshalb hat unsere Familie auch nichts über ihn gesagt.«
    Nur einmal war ich in einer von Carls Vorlesungen gewesen – das war zu einer Zeit, als Universitätsprofessoren noch eine säkulare Priesterschaft darstellten, jedenfalls in Österreich. Er war an der Tafel gestanden, gekleidet wie für einen englischen Herrenclubabend, in der rechten Hand die Kreide, die linke Hand flach vor sich, und hatte mit bald nur noch gehauchter Stimme die beklagenswerte Tatsache bejubelt, daß es vielleicht nie gelingen werde, eine Ordnung in die Abfolge der Primzahlen zu bringen; und während er sprach und die Zeichen auf die Tafel malte, hatte er immer wieder auf seine linke Hand geblickt, als seien dort die Glieder seiner Argumentationskette eingraviert. – Und so tat er es auch jetzt. Er drehte die Hand, mit der er seine Erzählung aufgehalten hatte, und las daraus vor, was er zum Thema Familie darin

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