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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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geschrieben fand.
    »Wir schleppen unsere Familienmitglieder mit uns herum wie Voodoopuppen, weil wir ihre böse Magie nicht wecken wollen, und das allein ist der Grund, warum wir uns nicht trauen, uns ganz von ihnen zu trennen.«
    Margarida hat mich einmal gewarnt, ich solle nicht unbedingt glauben, was Carl über seine Familie erzähle. Ihr Mann sei so sehr von dem Gedanken erfüllt, ein mündiger Mensch müsse bereit sein, für alles, was ihn betrifft, einzustehen, daß er nicht akzeptieren wolle, wenn einer sich hinstelle, als könne er nichts gegen seine Herkunft ausrichten. Wie die Eltern gewesen seien, sei Sache der Eltern. Wenn dich ein Unglück trifft, ist es dein Unglück, und es verdient, ertragen zu werden. Das sei Carls diamantene Meinung. Sagte Margarida. Ob er immer noch so dachte? In C.J.C. 6 finde ich eine Stelle – das war bereits am sechzehnten Tag meines Besuches –, wo ich zitiere, was er über den japanischen Mathematiker Makoto Kurabashi, den er entdeckt und mit dem er etliche Jahre korrespondiert hatte, sagte, nämlich: er sei sein Bruder gewesen; und ich schrieb weiter: daß er mich gleich korrigierte, als ob ich ihm widersprochen hätte, was ich nicht hatte: »Du verstehst mich falsch. Ich meine das nicht in dem abgeschmackten Sinn von ›wir werden alle welche‹ – nein, nein: In meiner Familie war er mein Bruder.«
    Carls Stimme auf dem Band: »Ich erinnere mich gut an Meran. Ich war fünf, sechs, sieben. Meine Mutter war fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig, aber sie sah keinen Tag älter aus als siebzehn oder achtzehn. Das haben alle gesagt. Jeder Gast, der zur Tür hereinkam. Die meisten in Uniform. Wenn wir beide allein waren, spielte sie mit mir. Wir aßen unter dem Tisch Marmeladebrote, zusammen mit einer Holzpuppe und einem Blechhahn. Wir legten Decken über den Tisch und hatten darunter unsere Höhle. Wir spielten Krankenhaus. Ich war der Arzt, sie die Patientin. Sie sagte, sie leide an der gefährlichen Schlafkrankheit. Sie war den ganzen Tag müde. Ich sehe sie im Bett liegen, die Zudecke um den Kopf gewickelt. Sie erklärte mir die Schlafkrankheit: ›Der Patient liegt im Bett, der Arzt schaut jede Stunde vorbei, mißt den Puls, fühlt die Stirn und schenkt Lindenblütentee nach. In der übrigen Zeit darf der Arzt tun, was er will.‹ Es war ein schönes Spiel. Nachdem Österreich Serbien den Krieg erklärt hatte, wurde meinem Vater das Privileg, an drei Tagen in der Woche zu Hause zu übernachten, entzogen. Meine Mutter packte ihre Sachen und fuhr nach Wien. Was sollte sie allein in Meran!
    Ich war zu dieser Zeit in Ferien bei meiner Großtante in Göttingen. Gleich nach Schulschluß hatte mich meine Großmutter in Meran abgeholt. Meine Mutter hatte mich ins Hotel Palace gebracht, in der Lounge war Übergabe. Die Wohnung meiner Eltern wollte meine Großmutter nicht betreten. Am 25. Juli, bei Bekanntgabe der Kriegserklärung, war ich in Göttingen bei meiner Großtante Franziska Herzog, genannt Franzi, und deren Tochter Kunigunde, genannt Kuni, den verrücktesten zwei Frauenzimmern, die mir je untergekommen sind – exzentrisch, laut, schrill, verzweifelt, egoman, unersättlich, aber auch großzügig und charmant und vor allem süchtig danach, mich zu drechseln und zu verwöhnen – eine überwältigende Feriengesellschaft für einen Achtjährigen. Und wir drei waren begeistert vom Krieg. Alles, was ich über den Krieg wußte, war, daß man ihn mit i-e schreibt. Was ja auch wieder merkwürdig ist, wo mein Vater doch Berufssoldat war. Ich weiß nicht, ob mein Vater auch so begeistert vom Krieg war wie ich und diese beiden sonderbaren, schrecklichen Frauen. Wobei die Begeisterung von Tante Franzi und Tante Kuni keine echte war, sondern eine zynische. Vaterländische Erregungen waren ihnen ebenso fremd wie die Uniformjacken und die Uniformhosen, die in dem Betrieb hergestellt wurden, von dem sie lebten und in den folgenden Jahren noch opulenter lebten. Sie freuten sich, daß die Welt verreckt. Jedenfalls Tante Franzi. Aber das habe ich nicht mitbekommen. Ein schöner Sommer. Alle Tage im Freien. Ein Umzug war in der Stadt. Wir haben uns an die Straße gestellt und zugeschaut. Vom Marktplatz zum Kriegerdenkmal sind die Leute gezogen, es war wie bei ihrem Karneval, weiter zum Offizierskasino und zum Haus des Oberbürgermeisters. Und jedesmal ein Hallo. Und jedesmal eine Rede oder zwei Reden oder drei und Bier, als wäre Krieg eine Sache des Brauereiwesens. Und die Studenten mit

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