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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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kommen. Die Tür flog auf, und ich war es, der die Mündung eines Gewehrs an der Stirn hatte. Zukrowski war bleich wie Mehl, er hatte das Gewehr im Anschlag, drückte sein Gesicht gegen den Kolben und stieß mit dem Lauf gegen meine Stirn, wie ich es bei seiner Stirn hatte tun wollen, dabei schrie er mit sich überschlagender Stimme.
    »Spierdalaj, ty chuju! Zajebie cie na smierc! Scheißemann! Nazi! Scheiße! Fuck you! Kurwa! Fuckscheißemann! Chuj! You are a loser! You are a dickless donkey nazi! Wypierdalaj, bo odstrzele ci ten glupi leb! Ich ziel auf deinen Kopf, Nazi!«
    Ich rannte zum Jeep zurück, drehte mich im Laufen immer wieder um, warf das Gewehr durch das offene Fenster ins Wageninnere. Er marschierte breitbeinig hinter mir her, ohne Eile, das Gewehr immer noch an der Wange. Und dann schoß er! Ja, er hat tatsächlich geschossen, dieses Arschloch! Das Projektil durchschlug meine Windschutzscheibe. Ich duckte mich hinter die Tür des Jeeps und kroch über den Beifahrersitz ans Lenkrad. Er fing wieder an zu brüllen. Ich sah ihn durch die Windschutzscheibe, das Gewehr lang vor ihm im Dreck, er stützte die Hände auf die Knie und schrie aus Leibeskräften und beugte sich vor, als würde er sich gleich übergeben, und was ich hörte, war weder Englisch noch Deutsch und wahrscheinlich auch nicht Polnisch, sondern ein absurder Kauderwelsch, den ihm pur sein Jähzorn eingab. Ich zitterte so sehr, daß ich Mühe hatte, den Rückwärtsgang einzulegen. Ich trat das Gaspedal voll durch. Der Jeep nahm einen Satz nach hinten, ich schlug das Lenkrad ein, die Reifen drehten durch, im Rückspiegel sah ich, daß Zukrowski das Gewehr wieder auf mich anlegte, sein zweiter Schuß knallte in den rechten vorderen Kotflügel, ich rutschte im Sitz nach unten, haute den ersten Gang hinein und raste davon, ohne etwas zu sehen.
    An dieser Stelle war die Geschichte meines tintendunklen Amerikas an ihr Ende gekommen.
    »Weiß ich nun alles über dich?« fragte Carl
    »Ich bin durch«, sagte ich.
9
    Der alte, gottbärtige Hofrat Mader fällt mir ein, von dem mir Carl erzählt hatte; der wenige Wochen nach Ende des Krieges im halbzerbombten Café Mozart in Wien darüber spekulierte, ob sein biblisches Ebenbild sich unter Umständen und in höchst besonderen Fällen vielleicht dazu überreden ließe (zum Beispiel von Präsident Truman, dem Entfacher des höllischen Feuers im Himmel über Hiroshima und Nagasaki), die Zeit zurückzudrehen, um uns Kreaturen eine zweite Chance zu geben. Carl hatte sich lustig über ihn gemacht. Er hat sich am Beispiel des Hofrat Mader über das schlechte Gewissen im allgemeinen lustig gemacht, dem ja bekanntlich die Tendenz innewohnt, dunkler zu malen als die Wirklichkeit, und in dessen atomarem Kern die Sehnsucht steckt, die Zeit außer Betrieb zu setzen: Würde der liebe Gott das Weltgeschehen tatsächlich zurückdrehen, wäre es dann nicht zielführend, wenn wir dies auch merkten? Damit wir wenigstens beim zweiten Versuch die richtigen Scheiben treffen? »Was für einen Sinn«, habe der Hofrat in die verständnislose neue Luft hinein gefragt, »hätte sonst der ganze Aufwand?« Und als wäre er vom lieben Gott persönlich eingeladen, seine Argumente vorzutragen, habe er mit ausgebreiteten Armen dargelegt: »Als Wilhelm II. das alles andere als ernstgemeinte Rücktrittsgesuch Bismarcks annahm, hatte er seine Gründe gehabt. Die mögen noch so dämlich und wichtigtuerisch gewesen sein, es waren immerhin Gründe. Warum sollten dieselben Gründe nicht abermals den Ausschlag geben, wenn der Kaiser bei einem zweiten Anlauf kein besseres Wissen mitbrächte, wenn ihm nicht höheren Orts eingehämmert worden wäre, welche Auswirkungen sein Entschluß haben wird?« – Das Kreuz des Abendlandes ist das schlechte Gewissen. Vor sechsundzwanzig Jahren ist mein Vater gestorben, vor zwanzig Jahren Margarida, vor achtzehn Jahren Maybelle; vor sechzehn Jahren hat sich meine Mutter aus der Welt verabschiedet; vor einem Jahr ist Carl gestorben, wenige Wochen zuvor hat David versucht, sich das Leben zu nehmen.
    Heute habe ich meine Wohnung geputzt – als schabte ich ihr eine alte Haut ab. Weil ich Evelyn am Telefon mitgeteilt hatte, es sei zu Ende mit uns, deshalb habe ich die Wohnung geputzt. Sie sagte: »Es ist dir ernst, stimmt’s?« Ich sagte: »Natürlich ist es mir ernst.« Die Matratzen habe ich über die Treppe zu meinem Arbeitszimmer geschleppt und auf dem Dach in die Sonne gelegt, die Betten über das

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