Abendland
ihren Fahnen. Ein Viertel von ihnen hat es zwei Jahre später nicht mehr gegeben, schätze ich. Bis in den frühen Morgen konnte man sie trommeln und johlen hören.
Sicher habe ich es auch genossen, so ausschweifend verwöhnt zu werden. Ich durfte aufbleiben, solange ich wollte, durfte essen, wann immer mir danach war, niemand verbot mir, in die Stadt zu gehen. Wenn ich von einem Taschenmesser in einem Schaufenster erzählte, legte man mir Geld auf den Tisch, damit ich es mir gleich am nächsten Tag kaufen konnte, doppelt Geld womöglich, weil Tante Franzi mir das Messer schenken wollte und Tante Kuni genauso. Die Launen, das Getue, der Zynismus der beiden gingen mir aber bald auf die Nerven. Nach einer Woche bereits legte ich mir ernsthaft einen Plan zurecht, wie ich allein nach Meran zurückfahren könnte. Ich wollte Tante Franzis Haushaltsgeld stehlen, mir eine Fahrkarte kaufen und mich unterwegs in der Nähe von irgendwelchen Leuten halten, damit der Kondukteur meinen sollte, ich gehöre zu denen.
Eines Tages brachte Tante Kuni eine junge Frau ins Haus, die sie als ihre Nachhilfelehrerin vorstellte. Tante Kuni hatte nämlich mit ihren zweiunddreißig Jahren begonnen, Philosophie zu studieren, und war in einen Phänomenologenkurs geraten, wo sie kein Wort verstand. Fräulein Stein war etwa so alt wie meine Mutter und sah ihr, obwohl dunkelhaarig, sehr ähnlich, beide hatten dieses ausgeprägte Grübchen am Kinn und die ernsten Augen, und beide waren auf eine beinahe überirdische Weise nicht eitel. Ich verliebte mich in sie. Tante Franzi und Tante Kuni verliebten sich ebenfalls in sie. Aber ich war der Bevorzugte. An den Nachmittagen, nach den zwei Nachhilfestunden mit Tante Kuni, zeigte sie mir die Stadt, führte mich durch immer eine andere Gasse, und immer gab es eine Sensation zu sehen oder zu hören oder zu riechen. Sie schenkte mir ein feingebundenes Buch mit leeren Seiten. Ich sagte, da hinein wolle ich schreiben, was wir beide erleben. Ich besitze es noch. Am Wall hinter dem Akziseamt beim Weendertor zeigte sie mir ein Hornissennest, ich hatte so etwas noch nie gesehen. Oder sie führte mich durch Blumenbachs Schädelsammlung. Aber sie erklärte mir nichts, wir haben uns die Exponate angesehen und gestaunt. Sie wußte auch nicht viel mehr als ich. Eigentlich wollten wir ja auch gar nichts wissen, nur anschauen wollten wir, und als der Kustos mit freundlichem Lächeln auf uns zukam, sind wir davon, weil wir fürchteten, er werde uns gleich einen Vortrag halten. Oder wir wanderten bis nach Rasemühle hinaus, zum Sanatorium, dort schlichen wir uns in den Park und stellten uns ins Efeu unter ein bestimmtes Fenster und lauschten der nicht enden wollenden Standpauke eines Paranoikers.
Ende September holte mich meine Großmutter aus Göttingen ab. Wir fuhren aber nicht nach Südtirol, sondern nach Wien. Im Zug teilte sie mir mit, daß mein Vater nicht mehr lebe. Sie teilte es mir mit – das ist richtig gesagt so. In der Volksschule Börsegasse war ich bereits angemeldet, und einen Platz im Hegel-Gymnasium für das Jahr darauf hatte mein vorausplanender Großvater auch schon für mich reservieren lassen. Unsere Wohnung in Meran habe ich nie wiedergesehen. Meine Mutter und ich bezogen drei Zimmer im Mezzanin im Haus am Rudolfsplatz, gegessen haben wir gemeinsam mit meinen Großeltern. Und meine Mutter führte ihr Leben als Tochter weiter, wie sie es vor ihrer Heirat geführt hatte. Ich wuchs neben ihr auf, als wäre sie meine ältere Schwester. – So sah unsere Familie aus.«
Unter Carls letzten Sätzen höre ich mich unruhig werden. Ich konnte nicht mehr länger sitzen. Ich hatte aus der Klinik ein Spezialkissen in Form eines Schwimmreifens mitgebracht, das wurde allen Prostataoperierten mitgegeben; es lag oben in meinem Zimmer. Wenn ich, hatte ich mir gedacht, im Morgenmantel herunterkomme, diesen Reifen unter dem Arm, das sieht aus, als wär’ ich unterwegs zum Strand, fehlten nur noch Sonnenöl und Sonnenbrille.
Ich höre mich auf dem Gerät sagen: »Es stört dich doch nicht, wenn ich mich hinlege? Ich kann mich setzen, wie ich will, es tut einfach noch weh.«
Carl: »Wann mußt du zur ersten Kontrolle?«
Ich: »Nächste Woche Dienstag.«
Er: »Frau Mungenast wird dich fahren. Was untersuchen sie dort?«
Ich: »Blut nehmen sie mir ab. Der PSA darf nicht über Null Komma Null sein.«
Er: »Das wird er nicht sein.«
Ich: »Das hoffe ich. Wie war es bei dir?«
Er: »Das weiß ich nicht mehr. Das
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