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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ist … ich weiß gar nicht, wie lang … das ist … ich denke, zwanzig Jahre ist das her. Ist es so gut für dich?«
    Ich: »Ja, so ist es gut … wie Marcel Proust … so geht es gut.«
    Unsere Stimmen hören sich kämpferisch an. Beide. Das überrascht mich. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich mich kämpferisch gefühlt hätte. Merkwürdig sind auch die überlangen Pausen zwischen ihm und mir.
    Er: »Ich kann keinen Wein mehr trinken.«
    Pause.
    Ich: »Wegen der Medikamente?«
    Pause.
    Er: »Sicher auch deshalb nicht, das wäre sicher nicht gut. Aber das ist es nicht. Ich leide seit einem Jahr an einer Art Allergie. Das heißt, die Histamine geraten in Aufruhr.«
    Pause.
    Ich: »Ich habe ein Dutzend Klammern im Bauch. Aus Titan.«
    Er: »Das hat jetzt erst angefangen, das ganze Leben lang war das nicht … Es ist wie Heuschnupfen.«
    Es hört sich für mich an, als sprächen die beiden für einen Hörer, den sie irrezuführen versuchten. Ich habe Teile des Bandes einem Freund vorgespielt; er hatte den gleichen Eindruck wie ich; er meinte, der Dialog klinge, als würden die beiden, während sie sprechen, sich gegenseitig Kassiber zuschieben.
    Ich: »Aber du trinkst doch nicht viel.«
    Er: »Das macht sich schon bei einem Glas bemerkbar. Das Gesicht juckt, ich muß niesen, die Augen tränen, und ich bekomme schlecht Luft, und das sei das gefährliche in meinem Alter. Dafür rauche ich eine Zigarette. Das tue ich nur aus Trotz, glaube mir.«
    Ich: »Du hast immer nur eine Zigarette geraucht.«
    Er: »Rauch meine! Ich werde Frau Mungenast sagen, sie soll morgen eine ganze Schachtel auf den Tisch legen.«
    Ich: »Ich rauche schon lange nicht mehr.«
    Er: »Sie findet es gelungen, wenn auf einem Tellerchen eine Zigarette liegt.«
3
    Weiter in Carls Erzählung – unwesentlich gekürzt und ohne nennenswerte Veränderungen vom Band abgeschrieben:
    »Als ich dreizehn war und die Professoren im Gymnasium dazu übergingen, uns mit ›Sie‹ anzureden, zog meine Mutter aus dem Haus meines Großvaters aus. Kann sein, sie war erwachsen geworden. Ich hätte, glaube ich, die Wahl gehabt, mit ihr zu gehen. Ich wollte nicht. Ich stellte das klar, noch ehe sie mich fragte. Das fällt mir in letzter Zeit häufig ein. Und es tut mir leid. Ich erinnere mich, daß sie ein gelbes Kleid trug, als sie in unserem Wohnzimmer stand und den Packern Anweisungen gab und daß die Männer über sie tuschelten. Ich nehme an, sie wollte es nicht auf einen Kampf mit ihren Eltern ankommen lassen. Sie räumte das Feld.
    Den Großvater kannte ich bis dahin nur wenig. Wenn ich in Wien gewesen war, hatte er keine Zeit gehabt. Ein großer, breiter Mann mit einem Spitzbart, grau wie Aluminium, und sehr roten Lippen, immer etwas aufgeregt, weil er immer an einer Idee arbeitete. Nun kümmerte er sich um mich, und kaum war ein Jahr vergangen, da erinnerte ich mich kaum noch, daß ich einmal einen Vater gehabt hatte. Er kümmerte sich in einer Weise um mich, die einer Enteignung gleichkam. Ich denke, meine Mutter hat es so empfunden. In längst vergangenen Sommern war er als Bub in der Nähe von Szeged auf dem Gut seines Großvaters gewesen. Von ihm erzählte er mir sehr oft. Er habe ihm beigebracht, was er von seinem Großvater beigebracht bekommen hatte, nämlich die Vögel zu beobachten. Nun brachte er es mir bei. – Sebastian, alles, was ich dir, als du ein Bub warst, über Vögel erzählt habe, stammt, ich würde sagen, im Wortlaut – laß mich rechnen – vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Warum auch nicht, die Vögel haben sich ja seither nicht geändert. – Mein Großvater und ich besuchten, wann immer es seine Zeit erlaubte, das Naturhistorische Museum – unseren märchenhaften Saal 29, die Vogelfauna von Mitteleuropa. Oder, was noch viel schöner war, wir fuhren mit dem Auto hinaus aus der Stadt und durch das Wiental und von der Straße ab über die Feldwege und durchstreiften das Gehölz am Fluß entlang. Der Chauffeur hatte im Wagen auf uns zu warten. Mein Großvater trug ein altes Fernrohr aus Messing bei sich, das man zusammenschieben konnte. Mir hatte er einen modernen Feldstecher gekauft. Oh, ich kannte mich aus, ich war ein Fachmann. Ich konnte alle Mitglieder der Gattung der Sylvia, unserer Grasmücke, hersagen – Sylvia atricapilla, Sylvia borin, Sylvia communis, Sylvia curruca, Sylvia nisoria. Mein Großvater hat mich regelmäßig abgeprüft. Wir saßen im Fond seines Ford, starrten geradeaus durch die Windschutzscheibe, er

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