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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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erstenmal. Merkwürdigerweise waren es die Bauern aus der Auvergne gewesen, die ihn auf den Club und seinen Star hingewiesen hatten. »Django, il était la musique fait l’homme!« Carl war schon an den Abenden zuvor durch die Stadt gezogen, von einem Jazzclub zum anderen, wie immer, wenn er in Paris war, auf der Suche nach einem Erlebnis, das den Flash erneuern sollte, den in New York das Konzert mit Billie Holiday – die Initiation! – in ihm ausgelöst hatte. Er hatte die fabelhafte, in diesem Sommer in Paris so heftig umjubelte kubanische Frauenband Anacoana im Nobelclub Les Ambassadeurs an den Champs-Elysées gehört; er war begeistert gewesen und vom Tisch aufgesprungen und hatte, was gar nicht seinem Naturell entsprach, laut »Brava! Brava!« gerufen; aber in der Nacht im Hotel war er aufgewacht in der zehrenden Unbefriedigtheit eines Süchtigen. »Allein die Tatsache, daß ich bei meinem Ausbruch die weibliche Form der Begeisterung gewählt hatte, sagte mir: Das war’s nicht.« Django Reinhardt an der Gitarre, Stéphane Grappelli an der Geige – das war’s. Im Zug nach Calais hatte er nur diese Musik im Kopf gehabt; die Felder und Dörfer, die Hügel und die Kathedralen am Horizont waren an ihm vorübergezogen wie Illustrationen zu den Klängen aus der Geige und der Gitarre. Besonders angetan hatte es ihm My Serenade , diese träge Melodie voll melancholischer Erotik, bei der, wie bei den meisten Stücken des Quintetts, die Gitarre den männlichen Part, die Geige den weiblichen übernahm. Grappellis rhapsodischer Legatostil mit den verschleppten Akzenten, der für sich zu weich, zu schnulzig gewesen wäre, war von den harschen, kantigen Gitarrensoli an die Kandare genommen worden – eigentlich schamlos, mitten auf der Bühne. Die Band hatte das Stück gleich dreimal an diesem Abend gespielt, jedesmal in einer anderen Improvisation. Promiskuitiv!
    »Diese Musik war schuld. Jawohl!« rief Carl aus – und in diesem Moment kam Frau Mungenast herein und fragte, ob es uns recht wäre, wenn sie beim Wilden Mann zum Mittagessen drei Portionen Hirschgulasch mit Knödel bestelle; er deutete mit seinem porzellanweißen Finger auf sie und sagte: »Alles ist mir recht! Aber Sie! Sie! Hüten Sie sich vor der Musik!«; worauf Frau Mungenast mir einen Blick zuwarf, mit den Schultern zuckte und hinausging. – Er war nun etwas verlegen wegen seines Übermuts, den er wohl für zu jugendlich hielt – aber dennoch für angebracht. »Diese Musik, die ich für die beste des vergangenen Jahrhunderts halte, sie hämmert einem ein, mir hämmerte sie ein: Die Welt ist sexy. Und wo sie es nicht ist, braucht man nicht hinzusehen. Sex ist mehr als geschlechtliche Betätigung, er ist eine Sicht auf die Welt, eine prinzipielle Lebenseinstellung, eine gefährliche – Achtung! –, aber eine, die glücklich machen kann. Die einzige, die wirklich glücklich machen kann. Daneben ist alles andere zweitrangig und harmlos.«
    Alle Monate reiste Carl zu den Orten, wo er geschäftliche Kontakte unterhielt, meistens fuhr er allein. Am Anfang hatte ihn Margarida begleitet. Seit Mariana und Angelina bei ihnen waren, blieb sie zu Hause; es wäre zu aufwendig gewesen, die beiden mitzunehmen, außerdem besuchten sie die Schule. Carl war nicht ungern allein. Er fuhr mit dem Schiff von Lissabon nach Nantes (er hätte auch durch Spanien mit dem Zug fahren können, aber seit Ausbruch des Bürgerkriegs war das nicht ratsam und lange Zeit auch gar nicht möglich gewesen), und von Nantes fuhr er mit dem Zug nach Paris, nach Brüssel oder nach Calais und mit der Fähre nach Dover und weiter mit dem Zug nach London. Manchmal mietete er sich in Paris einen Wagen und gondelte über die schmalen Landstraßen nach Deutschland hinüber, nach Köln, Hamburg, Aachen (wo er nach einem ihrer Vorträge Edith Stein traf – zum letztenmal). Oder er flog von Paris nach Berlin. Das Interesse an amerikanischem Bourbon war ungebrochen, jedenfalls in der deutschen Hauptstadt, daran hatten die politischen Umstände nichts ändern können. Es kam auch vor, daß er Zwischenstation in Göttingen machte; dann übernachtete er bei seinen Tanten, mied aber längere Gespräche mit ihnen, gab sich einen halben Tag Zeit für die Stadt, schlenderte, die Hände auf dem Rücken, durch die Hallen der Universität, besuchte Herrn Beyerchen in seinem Kabäuschen, den Hauswart, der immer noch seinen Dienst tat, ein Mannsbild von gargantuanischen Körpermaßen, plauderte mit ihm einen

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