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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Professor Noether nicht mehr lebe, wisse er doch, daß ihr dadurch viel Kummer erspart geblieben sei, wenn man bedenke, wie es vielen ihrer Freunde in Deutschland seither ergangen war. Inzwischen sei auch den friedliebendsten Politikern in Europa klargeworden, daß Herr Hitler einen Krieg wünsche; er, Prichett, sei sogar der Meinung, daß dieser Führer in Wahrheit den Krieg um seiner selbst willen anstrebe, seit allem Anfang an angestrebt habe, daß alle Gründe, die er nennen werde, wenn er ihn erst vom Zaun gebrochen habe, vorgeschoben sein würden. »Er will den Krieg. Die Ziele sind zweitrangig, die Gründe nicht einmal das. Also wird dieser Krieg kommen, denn es kann gar keine Bedingung geben, unter der er darauf verzichten wird.« Wie kein anderer Krieg in der Geschichte werde dieser Krieg ein Krieg der Maschinen sein, und er werde entscheidend am Himmel ausgetragen; diese Einschätzung gründe nicht in der Tatsache, daß er selbst Offizier der Royal Air Force sei, sondern werde von allen Waffengattungen geteilt. Und: Dieser Krieg werde in den Laboratorien und den technischen Versuchsanstalten, den Universitätsinstituten und Forschungseinrichtungen gewonnen.
    »Seit Hitler an der Macht ist, bemühen sich England und Amerika um die deutschen Wissenschaftler. Die besten haben uns die Nazis von selber geschickt. Aber viele sind in Deutschland geblieben. Es sind hochkarätige darunter. Heisenberg, von Weizsäcker oder der hochverehrte Max von Laue, den Sie sicher aus Ihrer Göttinger Zeit noch kennen, auch Otto Hahn. Frau Dr. Noether hat mir versichert, daß sie keinem ihrer ehemaligen Kollegen zutraue, daß er mit den Nazis zusammenarbeite. Frau Noether war ein grundgütiger Mensch, politisch naiv, sie hat in niemandem das Schlechte gesehen, das brauche ich Ihnen nicht zu erzählen, Sie kannten sie besser als ich. Sie hatte sich geirrt, das wissen wir definitiv.«
    Ohne daß ihn Carl auch nur einmal unterbrochen hätte, kam Mr. Prichett zum Schluß: »Sie sind für uns ein idealer Mann, Dr. Candoris. Sie haben sich während Ihrer Zeit in Deutschland nicht politisch auffällig engagiert, Sie leben in Portugal, aber nicht als Flüchtling, Sie sind inzwischen Geschäftsmann, der oft in Deutschland zu tun hat. Sie sind – verzeihen Sie, das ist in dieser Zeit nicht unbedingt ein Kompliment – durch und durch unverdächtig. Sie kennen viele deutsche Wissenschaftler und können mit ihnen in Verbindung treten, ohne daß jemand argwöhnisch würde. Woran arbeiten Ihre Kollegen in Deutschland? Das wollen wir wissen. Helfen Sie uns, es herauszufinden!«
    Mr. Prichett sagte, er müsse sein Wasser abschlagen; so lange gebe er Carl Zeit, sich zu entscheiden. Er stellte sich ein paar Schritte von der Bank entfernt an einen Baum; Carl konnte zwischen seinen leicht gespreizten Beinen hindurch sehen, wie der Urin schäumend am Baumstamm entlanglief und im Gras versickerte.
    »Ja«, sagte er, »ich werde es tun!«
    Im Jänner des folgenden Jahres fuhr Carl nach Berlin; dort besorgte er sich – wie immer, wenn er in einer deutschen Universitätsstadt war – die neueste Nummer von Naturwissenschaften , jenem Periodikum, in dem deutsche, aber auch – noch – internationale Naturwissenschaftler ihre Erfahrungen mitteilten und diskutierten. Diese Ausgabe nun enthielt einen Aufsatz von Otto Hahn, der in einem merkwürdig unsicheren, beinahe zum Greifen wackeligen Stil verfaßt war. Der »Kernchemiker«, wie er sich nannte, berichtete von Experimenten, die Madame Joliot-Curie vor ihm in Paris angestellt und die er zusammen mit seinem Kollegen Straßmann mit exakten radiochemischen Methoden nachgeprüft habe. Es handelte sich um die Beschießung von Uran mit langsamen Neutronen. Dabei sei ihm und Straßmann ein physikalisch unerklärliches Resultat gelungen, nämlich: In den Reaktionsprodukten fand sich ein Stoff, der vorher nicht dagewesen war; es handelte sich ohne Zweifel um Barium, ein Element von nur halbem Gewicht des Urans. Dieses unbegreifliche Vorhandensein des Bariums könne nur durch vorausgegangenes »Zerplatzen« des Urankerns und einer daraus folgenden Umwandlung eines Elements in ein anderes erklärt werden, wobei sich ein Teil der Materie in Energie verstrahlt habe.
    Er habe zuwenig von Kernphysik verstanden, um die Tragweite dieser Entdeckung abschätzen zu können, sagte Carl. Aber er habe an der Art und Weise, wie der Artikel formuliert war, gespürt, daß hier einer die Sätze in Eile niedergeschrieben hatte,

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