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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Gunst von Makoto betraf). Er blieb abrupt stehen und starrte vor sich ins Leere. Schließlich sagte er: Nun wisse er auch, warum diese Musik so schön sei, 1729 sei nämlich die kleinste Zahl, die sich auf zwei verschiedene Arten als Summe zweier Dreierpotenzen darstellen lasse. Es stimmte! Herrgott, es stimmte! Makoto Kurabashi war alles andere als ein naiver Zahlenkünstler! Er hatte bereits als Sechzehnjähriger an der kaiserlichen Universität von Tokio Vorlesungen und Kurse in Mathematik belegt. Seit er denken könne, sagte er, habe ihn nichts mehr interessiert als Zahlen.
    Nach unserer ersten Session im Bauch des Flugzeugs fragte ich ihn, wo er wohne. Ob er eine Unterkunft habe. Hatte er nicht. Nichts hatte er mehr. In diesem Augenblick beschloß ich, für ihn Sorge zu tragen. Als Sergeant Cousins kam, um ihn abzuholen, erklärte ich, ich sei noch nicht fertig mit ihm, er sei ein komplizierter Fall, der weiter beobachtet werden müsse; er solle ihn mir noch für wenigstens einen Tag lassen. Das könne er nicht, sagte er, höchstens für eine halbe Stunde. Ich sagte, ich benötige mindestens drei Stunden, um zu einem Ergebnis zu gelangen, bis zum Abend brauche ich ihn. Das sei entschieden zu lange, lehnte er ab, am Abend sei ja niemand mehr in der Nähe der C-47, und er könne nicht für meine Sicherheit garantieren. Ich hielt ihm vor, daß ich bereits den ganzen Nachmittag allein hiergewesen sei, daß meine Kollegen anderweitig beschäftigt seien. Schließlich feilschten wir uns auf eine Stunde zusammen. Es war seine Freizeit, das wußte ich. Der gute Jonathan Cousins faßte noch am gleichen Tag seinerseits einen ähnlichen Entschluß wie ich, und das aus ähnlichen Motiven. Wiedergutmachung. Wiedergutmachung in Form von Mäzenatentum sozusagen. Wir beide, Cousins und ich, beschlossen, jeder auf seine Weise und nach seinen Möglichkeiten, diesem Jungen Gutes zu tun. Viele Soldaten und viele Wissenschaftler hatten vielen Menschen Böses angetan; ein Soldat und ein Wissenschaftler wollten einem Mann Gutes tun. We do, ’cause we can. «
    Als Kind war Makoto Kurabashi oft krank gewesen. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr hatte er an keinem Ort länger als ein halbes Jahr verbracht. Sein Vater litt unter manisch-depressiven Schüben, und wenn er in seiner Hochphase war, packte er zusammen und schleppte seine Familie hinter sich her – Frau, Tochter, Sohn. Als Makoto elf Jahre alt war, verließ die Mutter die Familie. Der Vater erzählte den Kindern, sie habe sich in einen anderen Mann verliebt. Die Kinder wußten es besser: Die Mutter hatte dieses Leben nicht mehr ausgehalten. Makoto wurde wieder krank, diesmal lebensgefährlich: Tuberkulose. Er wurde von seinem Vater und seiner Schwester bis vor das Sanatorium begleitet. Durch das Tor mußte er allein gehen. Seinen Vater sah er nie wieder, seine Schwester erst nach Jahren.
    Durch die Fenster des Schlafsaals hatte er einen weiten Blick auf das Gewirr der Oberleitungen eines Verschiebebahnhofs. Er sah weißen Dampf und schwarzen Dampf in den Himmel steigen, in Säulen oder in Ballen, die ihr Inneres nach außen stülpten, sah kompakten braunen Qualm mit kleinen Funkenschwänzen gespickt, und bald wußte er, ohne daß er dazu das Bett verlassen mußte, zu welcher Lokomotive welcher Ausstoß gehörte. Wenn er aufrecht in seinem Bett saß, konnte er von den hohen, geschlossenen Waggons, die draußen vorüberfuhren, gerade das Dach sehen; manchmal stand dort ein Mann, der trug einen Helm über dem Kopf und hatte Handschuhe an, die aus der Ferne wie Schaufeln aussahen. Diesen Mann nahm er mit in seine Träume. In der Nacht hörte er die Puffer aufeinanderkrachen und die Trillerpfeifen der Arbeiter. Er lag mit offenen Augen in seinem Bettchen und blickte durch die Dunkelheit hindurch auf bunte Felder von Zahlen. Die Geräusche der Räder auf den Schienen, Eisen auf Eisen, gaben ihm das befriedigende Gefühl von Vorhersehbarkeit, so als würden sie nicht aus der wirklichen Welt zum Fenster des Schlafsaals empordringen, sondern aus den Zahlenfeldern, die er vor sich sah, Felder ohne Horizont. Es gab Zahlen, die von innen heraus leuchteten, andere waren wie Scherenschnitte vor einem Licht. Wieder andere traten aus der Ebene hervor und überragten ihre Umgebung; die ließen sich niederdrücken, und wenn man das tat, schnellte an einer anderen Stelle eine andere Zahl empor. Der Mann mit dem Helm und den Schaufelhänden war sein Diener und Verbündeter, er führte aus, was ihm

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