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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Streifen und schaute noch im Mathematischen Lesezimmer vorbei, stöberte ein wenig und spazierte, als die Sonne sich senkte, zu den Tanten hinauf und nahm sich vor, nie wieder hierherzukommen, wo alles so fremd war; und kam doch wieder, in der Hoffnung, er habe sich beim letztenmal geirrt.
    Margarida, er und die Zwillinge führten ein ruhiges Leben, luxuriös, aber nicht protzig. Die Papierarbeit im Kontor überließ er zur Gänze den Angestellten – worüber Senhor Costa Caeiro auch sehr erleichtert war. Am Morgen nach dem Frühstück lief Carl, oftmals in Hausjacke und Hausschuhen, die zwei Treppen hinunter zu den Büros und wünschte allen einen guten Tag, rief sein »São os empregados quem manda agora!« und war schon wieder davon. Mittags verließ die Familie – so nannten Margarida und er die kleine Vierergruppe um ihren Frühstückstisch – das Haus in der Rua do Salitre und aß in einem der Restaurants in der Nähe des Botanischen Gartens. Danach trennten sie sich; Margarida und die Kinder spazierten zum Tejo hinunter und setzten sich dort in die Sonne, oder sie gingen zurück nach Hause. Carl erkundigte sich derweil in den Buchhandlungen der Altstadt, ob seine Bestellungen eingelangt seien, oder er hielt in der Universität seine Vorlesung und trank anschließend mit den Mathematikern den obligaten Fünf-Uhr-Tee. An sonnigen Wochenenden fuhren sie alle miteinander im Auto nach Ericeira ans Meer (wo inzwischen eine rege Bautätigkeit eingesetzt hatte; wie Carl in Erfahrung brachte, ließ Salazar eine Bungalowsiedlung bauen – für Flüchtlinge aus Deutschland). Carl und Margarida hatten dort ein hübsches, weißgestrichenes Häuschen gekauft, das auf einer Klippe stand und über zwei Räume und eine riesige Terrasse verfügte – und über einen eigenen Stufenweg aus Eisenbahnschwellen hinunter zum Strand, den die Mädchen nie gingen, ohne von oben bis unten oder von unten bis oben ein Lied zu singen, zweistimmig, schön parallel. Hier waren sie tatsächlich eine Familie – gingen spazieren, die Kinder in der Mitte, vorbei an den vornehmen Hotels mit ihren stuckverzierten Balkonen, die wie kleine Servierschürzen aussahen.
    Nur ein Mal in diesen Jahren war Carl in Wien gewesen, um mit seinem Großvater über das Geschäft zu reden. Der alte Bárány vertraute ihm; über das Kontor im fernen Lissabon zerbrach er sich den Kopf längst nicht mehr. Seine Mutter sah Carl bei dieser Gelegenheit nicht; sie sei gerade auf Besuch bei einer Freundin in der Wachau, hieß es.
    Im Sommer 1938 also sprach ihn Rupert Prichett auf der Straße an, es war in der Nähe des Kensington Garden. Carl erkannte ihn sofort. Er könne nicht glauben, daß dieses Wiedersehen ein Zufall sei, sagte er und drückte seinen Finger gegen die Brust des Mannes. Es sei in der Tat kein Zufall, gab Prichett ohne Zögern zu – und drückte nun seinerseits, Carl parodierend, einen Finger gegen Carls Brust. Er respektive seine Mitarbeiter beobachteten ihn seit geraumer Zeit, gab er freimütig zu und bat Carl, ihm eine Stunde zu schenken. Es war ein angenehm kühler Tag, der mit einem leichten Jackett im Freien verbracht werden konnte. Sie setzten sich im Park auf eine der Bänke, die um einen Ententeich standen. Prichett nahm aus seiner Aktentasche eine Thermoskanne mit Tee und eine Aluminiumdose mit belegten Brotschnitten; er sei gerne bereit, mit Carl zu teilen. Die beiden sahen einander durchaus ähnlich; auch Prichett war groß und hatte hellblondes Haar, allerdings kurzgeschnitten, und auch er hatte beim Sprechen die Angewohnheit, allem ein ironisches Zucken in den Mundwinkeln nachzuschicken. Sie waren einander sympathisch gewesen, als sie sich auf der Veranda des Hauses in Kinnelon, New Jersey, unterhalten hatten; und dabei war es geblieben.
    Er wolle nicht herumreden, sagte Prichett mit vollem Mund, er arbeite mit dem SIS, dem Secret Intelligence Service, zusammen. Er habe sich in Kinnelon, nachdem Carl nach New York City zurückgefahren sei, bei Frau Professor Noether nach ihm erkundigt; sie habe sehr warmherzig von ihm gesprochen und sei mit ihrem Wort dafür eingestanden, daß ihr ehemaliger Student Candoris erstens: ein hervorragender Wissenschaftler sei, einer der besten auf seinem Gebiet, ohne Zweifel der beste, den sie jemals zu einer Dissertation begleitet habe; vor allem aber, daß er, zweitens: mit den neuen Machthabern in Deutschland mit absoluter Sicherheit nichts zu tun haben wolle. So traurig er darüber sei, daß Frau

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