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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Tokio. Dr. Yamazaki ließ seinen Schützling in die Wäscherei des Krankenhauses versetzen, er fürchtete, sein labiler Gesundheitszustand könnte unter den Belastungen des Pflegedienstes leiden. Erst arbeitete Makoto an den dampfenden Bottichen, in denen die Verbände und die Wäsche ausgekocht wurden, später nahm ihn eine der Frauen zu sich in die Büglerei. Sein Husten hatte sich in den Laugendämpfen wieder verschlimmert. Er war der einzige Mann hier unten. Die Frauen mochten ihn. Er unterhielt sie, indem er dreistellige Zahlen im Kopf schneller miteinander multiplizierte, als es ihnen auf dem Papier trotz Vorsprung gelang. »Wie machst du das?« fragten sie, und er lächelte, und sie liebten ihn, als wäre er ein Verwandter. Die Frauen waren sich einig, daß aus ihm einmal ein schöner und erfolgreicher Mann würde, er sollte sich nur vornehmen, mindestens eine halbe Stunde am Tag seinen Daumen gegen seine Schneidezähne zu drücken, damit die sich geradestellten. Er spannte die Leintücher in die Pressen und faltete sie, ließ das Eisen über die Verbände gleiten und wickelte sie auf einer Handkurbel zu prallen Rollen, legte Nachthemden zusammen und stapelte sie in die Gitterwägen.
    Vom Untergang der Stadt Hiroshima erfuhr er vierundzwanzig Stunden, bevor die Bombe auf Nagasaki abgeworfen wurde. Eine einzige Bombe, berichteten die Frauen, habe alle Häuser zerstört und alle Menschen getötet, hunderttausend. Makoto glaubte es nicht, und die Frauen glaubten es auch nicht. Aber als die zweite Bombe fiel, glaubten sie es. Sie meinten, nun komme eine Stadt nach der anderen an die Reihe, als letzte die Hauptstadt. So, sagten die Frauen, würden sie es machen, wenn sie die Amerikaner wären. Sie fürchteten sich nicht. Sie verrichteten ihre Arbeit, wie wenn ihnen jemand garantiert hätte, daß auch nach dem Untergang gedämpfte Leintücher und gebügelte Nachthemden gebraucht würden.
    In der Nacht fiel eine Bombe auf das Krankenhaus. Am nächsten Morgen, als Makoto zur Arbeit antreten wollte, fand er die Straße nicht mehr. Von nun an trieb er sich zwischen den Ruinen herum. Er wurde von amerikanischen Soldaten aufgegriffen und wieder freigelassen, nachdem er ihnen mit seinen Rechenkünsten einiges Vergnügen bereitet hatte. Er kam wieder, führte neue Tricks vor, nahm Dollars dafür, obwohl er damit nichts anfangen konnte. Man gab ihm Essen und Zigaretten und ließ ihn schlafen, wo er sich gerade hinlegte. Manchmal warf man ihm eine Decke zu. Selbst die Katastrophe vermochte ihn nur kurze Zeit von seinen Zahlen abzulenken.
3
    Es entsprach der von Carl bevorzugten Dramaturgie, bei einer Geschichte an ihrem Ende zu beginnen und in der Erzählung nachzuholen, wie es dazu gekommen war. Ich vermutete hinter dieser Methode einen Bescheidenheits-Trick; ich meine damit, er suggerierte dem Zuhörer zunächst, daß es im folgenden nicht um ihn, den Erzähler, sondern um einen anderen gehe, um dann in der Vorgeschichte doch von sich selbst zu erzählen; damit bekam die Geschichte des Erzählers doppeltes Gewicht – erstens ihr eigenes, zweitens das als Vorgeschichte zu einer anderen, bereits als sensationell angekündigten Begebenheit. Ich weiß nicht, ob sich Carl des Raffinements dieser Strategie bewußt war, ich denke aber, man würde ihn unterschätzt haben, wenn man geglaubt hätte, er wäre es nicht.
    Die Vorgeschichte zu der Begegnung mit Makoto Kurabashi – »diesem Erwählten, hätte er die Wahl nur angenommen«, »meinem verlorenen Bruder« – beginnt im Frühling 1935 in Kinnelon, New Jersey, bei der Party zu Ehren von Emmy Noether, auf der Carl, wie ich bereits berichtet habe, Abraham Fields kennengelernt hatte.
    Ebenfalls lernte er bei dieser Gelegenheit Major Rupert Prichett von der britischen Royal Air Force kennen. Ihn nun traf er dreieinhalb Jahre später in London wieder – und dieses Treffen war folgenschwer.
    Carl war geschäftlich in London, für Bárány & Co. , es ging um schottischen Whisky und den Gegenhandel mit Portwein. Er war aus Paris gekommen, wo er sich mit einem belgischen Kakaohändler, einem Senfkocher aus Dijon und zwei selbstbewußten Vertretern einer Käsereigenossenschaft aus der Auvergne getroffen hatte. Außerdem – und das war der Grund, warum er an diesem und auch an den folgenden Tagen in einer – wie er es nannte – »so leichtfertigen Stimmung« war – hatte er am Abend im Hot Club de France in der Rue Chaptal am Fuß des Montmartre Django Reinhardt gehört – zum

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