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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Makoto auftrug. Er hüpfte von Zahl zu Zahl, übersprang in einem Lidschlag Millionen, pflückte, jätete, spann feine Fäden zwischen Verwandten, verschraubte stählerne Spangen von Primzahlenzwilling zu Primzahlenzwilling. Makoto kannte sie alle. Es gab freundliche Zahlen und unfreundliche Zahlen, solche, die sich hingebungsvoll seinen Gedanken fügten, und solche, die ihn verwirrten und unglücklich zurückließen. Und immer wieder standen rätselhafte Zahlen dazwischen, die so trüb und staubig waren, daß Makoto und sein Diener ihren Wert nicht erkennen konnten. Denen gingen sie aus dem Weg, der Diener kurvte elegant um sie herum, wenn er über das Feld turnte. Zahlen, die blau waren oder ins Blaue spielten, liebte Makoto besonders. An den Vormittagen hatten die Kinder Unterricht, aber das war eher Beschäftigungstherapie als Schule. Ein Lehrer für alle Fächer. Der war allerdings beeindruckt von den Rechenkünsten des inzwischen Dreizehnjährigen; freilich konnte er nicht einmal annähernd abschätzen, mit was für einer Begabung er es bei Makoto zu tun hatte. Er freute sich, daß sich sein Schüler wenigstens für ein Fach begeisterte, und beschaffte ihm alle Literatur, die er wünschte – soweit sie ihm zugänglich war. Als Gegenleistung bemühte sich Makoto, Deutsch und Englisch zu lernen.
    Schließlich mußte Makoto das Sanatorium verlassen. In seinem Koffer war alles, was er besaß: zwei weiße Hemden, Strümpfe für Sommer, Strümpfe für Winter, Unterwäsche, eine Uhr, eine Logarithmentafel und Papier. Und eine kleine Taschenlampe, die war ihm das wertvollste. Die Batterie war längst leer, aber er beabsichtigte, sobald er Geld verdiente, eine neue zu kaufen. Die Heimleitung hatte ihn auf einen Weg geschickt. Makoto aber hatte nicht richtig zugehört und vergessen, was ihn am Ende dieses Weges erwartete. So ging er durch die Straßen, wechselte die Seiten, bog nach links ab, bog nach rechts ab, wechselte abermals die Seite, als wäre die Stadt ein Zahlenfeld und er der Mann mit dem Helm und den Schaufelhänden und ein anderer aus einem anderen Traum gäbe ihm die Befehle. Schließlich stellte er seinen Koffer neben sich auf das Trottoir und wartete. Die Hände in den Jackentaschen. Die Schultern ein wenig hochgezogen. Eilende Schritte waren um ihn herum. Er stand niemandem im Weg. Störte niemanden. Selbst die Spatzen kümmerten sich nicht um ihn und nahmen zu seinen Füßen ein Staubbad, hinterließen kleine, kreisrunde, saubergefegte Flecken auf dem Asphalt. So flach atmete er, daß er meinte, er benötige bald auch die Luft nicht mehr. Der Hunger erlosch, und die Gedanken erloschen. So stand er bis in die Nacht hinein neben seinem Koffer. In seinem Gesicht ein aufsteigendes Lächeln. Das hielt er fest mit unbewußter Kraft, damit er, falls ihn doch jemand anspräche, leichter zu sich zurückfände.
    Jemand sprach ihn an – es muß wohl so gewesen sein. Makoto erinnerte sich nur an wenig; er sei in ein Krankenhaus gebracht worden, aber dort habe man ihn nur ein paar Tage behalten. Dr. Yamazaki, einer der Ärzte, habe in seinem Haus ein Bett für ihn aufgestellt; aber auch hier konnte er nur wenige Tage bleiben. Er wurde in einem provisorischen Sanatorium aufgenommen, das überfüllt war und nur wenig Personal hatte. Dr. Yamazaki besuchte ihn und brachte ihm Medikamente. Das war nicht legal. Makoto mußte ihm versprechen, daß er mit niemandem darüber redete. Der Doktor hatte zwei Söhne, die waren etwas älter als Makoto, beide dienten in der Armee, der eine war in der Mandschurei stationiert, der andere kämpfte auf der Insel Guadacanal gegen die Amerikaner. Dr. Yamazaki hatte Makoto seiner Frau zuliebe in sein Haus aufgenommen, damit sie in ihrer Sorge abgelenkt würde; aber dann war sie zum Arbeitsdienst eingezogen worden, und auch er hatte nicht die Zeit, sich um den Patienten zu kümmern, wie es notwendig gewesen wäre. Nach einem halben Jahr wurde Makoto aus dem Sanatorium als geheilt entlassen. Wieder nahm ihn das Ehepaar Yamazaki bei sich auf. Makoto hustete noch, aber seine Genesung schritt voran. Als er genügend Kraft gewonnen hatte und auch nicht mehr so stark schwitzte, verschaffte ihm der Doktor eine Arbeit als Pfleger im Krankenhaus, in dem er als Arzt tätig war, und auch eine Unterkunft, und er setzte sich dafür ein, daß Makoto an der Universität Vorlesungen besuchen durfte, bei denen es um Zahlen ging.
    Die amerikanische Luftwaffe flog Angriffe auf Kobe, Osaka, Nagoaka und auch

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