Abendland
– Jobst war selbstverständlich Mitglied der NSDAP, aber auch Mitglied der SS im Rang eines Obersturmführers, er hatte an der Universität Jena den sogenannten »Assistentensturm« gegründet, eine Vereinigung des akademischen Mittelbaus, die in ihren Statuten als Ziel die Definition einer deutschen Physik, einer deutschen Chemie und einer deutschen Mathematik angab. Er wollte Carl imponieren; seine streberische Eitelkeit würde sich, dachte Carl, vielleicht ausnützen lassen.
Manfred Baron von Ardenne – neben Rosbaud der zweite, den Prichett als Anlaufstelle genannt hatte – war Besitzer und wissenschaftlicher Leiter des Forschungslaboratoriums für Elektronenphysik in Berlin-Lichterfelde, das in der Öffentlichkeit den sagenhaften Ruf einer modernen Hexenküche genoß, spätestens seit der Funkausstellung von 1931, als er das erste vollelektronische Fernsehen vorstellte, womit es der Baron, der sich rühmte, der Enkel von Fontanes »originaler« Effi Briest zu sein, auf das Titelblatt der New York Times schaffte – was als nächstem »Deutschen« erst Adolf Hitler gelang. Ardenne, geschickt in der Akquisition von Aufträgen, hatte sich gleich nach dem Erscheinen von Otto Hahns Artikel mit dem Reichspostminister Ohnesorge in Verbindung gesetzt und ihn auf die ungeheure Bedeutung der Hahnschen und Straßmannschen Entdeckung aufmerksam gemacht. Ohnesorge verfügte nämlich auch über den Etat der Forschungsanstalt der Post, der beträchtlich war. Die Deutsche Reichspost schloß mit Ardenne einen Vertrag über ein Projekt »für die technische Entwicklung von Verfahren und Anlagen auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung«, dessen Gegenstand unter anderem der Bau von Zyklotronen für das Institut in Berlin-Lichterfelde war. Als Carl dies Rupert Prichett bei einem Besuch in London erzählte, wurde der Major blaß.
Am 1. September marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Daraufhin erklärten England und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Ende September meldete Carl nach London, im Forschungszentrum des Heereswaffenamtes habe unter der Leitung von Abraham Esau und Oberst Schumann – nach dessen eigenen Angaben ein Nachfahre des gleichnamigen Komponisten und außerdem überzeugtes NSDAP-Mitglied der ersten Stunde – eine Versammlung von neun Kernphysikern stattgefunden, darunter Walther Bothe, Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg, Gerhard Hoffmann, Professor für Experimentalphysik aus Leipzig und – Wilhelm Jobst. Ergebnis dieser geheimen Sitzung: Gründung des sogenannten Uran-Vereins. – Nächste Meldung nach London, nur wenig später: Die Deutschen verbieten die Ausfuhr von Uranerz aus der Tschechoslowakei – außer dem Uran der Belgier, das aus der Kongo-Kolonie stammte, besaß sonst kein Land in Europa wesentliche Mengen dieses Metalls. – Nächste Meldung: Die I.G. Farbenindustrie AG übernimmt in großem Stil die Zulieferung von gasförmigen Uranverbindungen und schwerem Wasser an den Uran-Verein. – Dann: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin wird zum wissenschaftlichen Zentrum des Uran-Vereins. Sein bisheriger Leiter, der Holländer Peter Debye, wird abgesetzt, er verläßt Deutschland; sein Nachfolger wird Werner Heisenberg – was um so bemerkenswerter war, als es sich bei letzterem nicht um einen Eiferer aus der zweiten oder dritten Reihe handelte, sondern um einen der hervorragendsten Forscher auf dem Gebiet der Atomphysik, Nobelpreisträger des Jahres 1933. Aus Gesprächen mit Jobst erfuhr Carl, daß Heisenberg soeben eine theoretische Arbeit abgeschlossen habe, die den Unterschied zwischen dem Bau eines Uranmeilers, in dem die Kettenreaktion dosiert und auf beliebig lange Zeit gestreckt werden könne, und einer Uranbombe darstellte, bei der die Reaktion ungesteuert und innert dem millionstel Teil einer Sekunde einer Explosion entgegenlaufe, über deren Ausmaß sich vorläufig keine Aussagen treffen ließen, außer, daß sie gewaltig sein werde.
Wilhelm Jobst entwickelte zu Carl eine »studierenswerte Anhänglichkeit« (Carl). Der junge, schneidige Professor mit dem polierten Bubengesicht war bis zum absoluten Nullpunkt der Kritikfähigkeit gerührt, weil ihm die Vorsehung einen Siegfried als Freund geschickt hatte, groß und blond und blauäugig, vielleicht etwas zu groß, etwas zu sehr in die Länge gezogen und somit zu dünn, dafür aber eben ein »Göttinger« (als ob sich der Göttinger Geist nach Subtraktion von Emmy Noether,
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