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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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nicht sehr viel mehr als Bäuche, Rücken, Beine und Arme in bunten Hemden, Blusen, Schuhen. Und Gesichter sah ich, wie ich noch nie welche gesehen hatte – schwarze, braune, sehr weiße, bläuliche. Aber die verschiedenen Hautfarben beeindruckten mich nicht so sehr wie die verschiedenen Faltungen der Haut. Manche Gesichter erschienen mir wie auf ein kleineres Format zusammengelegt; wenn der Mann oder die Frau redete oder lachte, konnte ich mir ausmalen, zu welchen Dimensionen der Mund, um nur ihn zu nennen, aufgedehnt werden könnte. Und alle redeten. Einer redete mit dem anderen, der ebenfalls redete, aber nicht unbedingt mit dem einen. An die Musik des Portugiesisch der Lisboer war ich gewöhnt; das Portugiesisch der Bürger von São Paulo, wenn es im freien Chor der offenen Straße erklang, hatte etwas Trommelndes an sich, als bezöge es seinen Rhythmus vom immergleichen Aufsetzen der Füße auf dem Pflaster. Und ich bewegte mich in ebendiesem Rhythmus vorwärts. Ich zog meine Jacke aus und löste den Krawattenknoten, mein Rücken war naß, und der Schweiß rann mir über das Gesicht und bis hinunter zum Hals. Alle schwitzten. An einem Stand mitten auf dem Gehsteig – der Gehsteig schien mir nicht schmaler zu sein als die Fahrbahn der Ringstraße in Wien – war ein Stand aufgebaut mit einem Dach aus grün-gelbem Stoff, an dem gab es Eis und farbige Zuckerkugeln in der Größe von Tischtennisbällen zu kaufen. Ich nahm ein Eis und eine weiße Kugel mit roten Meridianen. Ich drückte mich in eine Seitengasse, in der nicht so viele Leute waren, stellte mich in den Schatten und leckte abwechselnd das Eis und die Zuckerkugel.
    Ich wußte nicht, wie weit ich auf dem Boulevard bereits gegangen war, ob tatsächlich nur hundert oder zweihundert Meter oder schon einen Kilometer oder gar weiter. Die Hitze, der Lärm, das Gedränge hatten mich erschöpft und mir jedes Gefühl für Proportionen genommen in Zeit und Raum. In der Seitengasse fiel die Sonne nicht bis zur Straße herab, die Häuser standen zu eng, auch zog ein kühler Wind hindurch. Als ich das Eis aufgeschleckt hatte, ging ich weiter in die Gasse hinein. Ich hatte Durst. Ich konnte das Ende der Gasse nicht sehen, weil sie in einem leichten Bogen nach rechts zog, der nicht aufzuhören schien, und bald wußte ich nicht mehr, in was für einem Winkel zum Boulevard ich ging. Hier fuhren nur wenige Autos, es waren hier kaum Geschäfte, und wenn, hatten sie keine Auslagen, sondern nur spärliche, angestaubte Türöffnungen, die nicht bis zum Boden reichten und vor denen Holztreppen mit drei oder vier Stufen standen. Die Läden vor den Fenstern waren angewinkelt, in den höheren Stockwerken, wo die Sonne die Hauswände erreichte, waren sie geschlossen. Nach vielleicht einem halben Kilometer verbreiterte sich die Gasse zu einem Platz, die Fahrbahnen teilten sich um einen kleinen Park, in dessen Mitte ein Springbrunnen seine Fontäne in den Himmel schickte. Ein Trinkbrunnen war auch dort, man mußte mit der Hand auf einen Messinghebel drücken, dann sprang eine schmächtige Kopie der Fontäne aus dem Messingbecken, und wenn man sich drüberbeugte, mitten in den Mund hinein. Ich trank, bis mir der Bauch weh tat. Ich zog die Schuhe aus und die Strümpfe, krempelte die Hosenbeine hoch und stellte mich ins Wasser. Ein Schleier des Springbrunnens traf mich wie ein kühler Nebel. Ein paar dunkelhaarige Buben, die nur Unterhosen anhatten und sonst nichts, reichten sich gegenseitig einen Plastikstutzen zu, auf dem ein windradähnliches Gebilde steckte; sie zogen kräftig an einer Schnur, der Propeller drehte sich und hob sich rasant in die Höhe; einer schaffte es bis über die Baumwipfel, es bestand Gefahr, daß der Propeller dort hängenblieb. Ich saß in dunkler Hose und weißem Hemd, eine Krawatte um den Hals, den Knoten gelockert, am Rand des Springbrunnens, die Jacke sorgfältig zusammengelegt auf den Knien – natürlich war ich eine Provokation für sie. Sie bauten sich vor mir auf, trauten sich aber nicht näher als fünf Schritte an mich heran. Sie fuchtelten mit den Händen und sagten Sachen zu mir, die ich nicht verstand. Aber ich hatte keine Angst vor ihnen, sie wollten mir nichts tun; ich war ein Ärgernis für sie, und dafür wollten sie mich ein wenig ärgern, das war alles. Nach einer Weile wandten sie sich von mir ab und spielten weiter. Irgendwann kam einer von ihnen zu mir, hielt mir den Stutzen hin und ließ mich den Propeller steigen. Sie fragten mich

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