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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Kochtopfs; an den runden Wänden entlang liefen Gänge mit goldblinkenden Geländern, von dort gingen die Zimmer ab, es müssen Hunderte gewesen sein. Von der Decke herab hing – und das war die Sensation – an vier schweren, ebenfalls goldenen Ketten eine Plattform, auf der ein Konzertflügel stand. Er schwebte, schätzte ich, sechs Meter über den Köpfen der Menschen unten in der Halle. An den Abenden saß dort ein Pianist im Frack und spielte, und ich wußte nicht, wie er zu der Plattform gelangt war, es gab nämlich keinen Steg. Carl meinte, er sei wohl, während wir das Abendessen eingenommen hatten, mit einer Art Kran dorthin gehoben worden.
    Der Kongreß fand nicht weit vom Hotel statt. Am ersten Tag fragte mich Carl, ob ich mitkommen wolle, um mir anzusehen, wo er sich den Tag über aufhalte, für den Fall, daß mir langweilig werde oder ich ihn für irgend etwas brauche; vielleicht hätte ich ja Lust, mir einen Vortrag anzuhören (tatsächlich war er der Meinung, ein neugieriger Mensch lerne auch, wenn er zuhöre, ohne etwas zu verstehen; Argument und Beweis: am Beginn seines Lebens lernt jeder Mensch, obwohl er nichts versteht; wäre es nicht so, wären wir gar nicht in der Lage, irgend etwas zu lernen). Eventuell seien andere Kinder dort; schränkte aber gleich ein, das glaube er eigentlich doch nicht. Ich wäre lieber durch alle Stunden des Tages in der Hotelhalle gesessen und hätte hinauf zu dem schwarzen Flügel gestarrt, der mir wie ein riesiger abgeschossener Vogel vorkam, als bei Gleichaltrigen zu stehen oder zu sitzen oder mit ihnen zu laufen oder zu raufen und dabei zu schweigen und schweigend zu lernen. Was lernen? Ich sagte, er solle sich über mich nicht den Kopf zerbrechen, ich käme zurecht; er zerbrach sich ja auch gar nicht seinen Kopf. Er sprach keine Verbote aus und keine Gebote, gab mir keine Ratschläge, warnte mich nicht, ermahnte mich nicht.
    Ich hatte mich mit Lektüre eingedeckt, las in diesen Tagen zum weiß-nicht-wievielten Mal den Tom Sawyer und den Huckleberry Finn , ich schrieb in mein Tagebuchheft; aber ich schrieb nicht hinein, was ich erlebte, denn ich erlebte ja nichts, ich dachte mir Geschichten aus, eine spielte unter Wasser in einer Glaskugel. Ich blieb die meiste Zeit im Hotel, streifte durch die Gänge, umrundete den Kessel auf den verschiedenen Stockwerken, schwamm eine halbe Stunde im Pool oben auf dem Dach; selten trat ich vor die Tür auf die Straße hinaus, die ein breiter Boulevard war, so breit, daß ich nicht auf die andere Seite schauen konnte. Draußen war es schwindelerregend heiß. Im Hof zwischen dem Gästehaus und dem Betriebsgebäude hielt sich die kühle Luft der Nacht bis in den Nachmittag hinein. Ich setzte mich in einen der Korbstühle unter einen Sonnenschirm. Die Kellnerinnen und Kellner und die Herren und Damen an der Rezeption sagten »Mr. Lukasser« zu mir, und sie sagten es, ohne ihren Mund zu einem ironischen Grinsen zu verziehen; wahrscheinlich, weil ich immer in Anzug und Krawatte war. (Margarida hatte gesagt, ich solle meine Turnsachen mitnehmen, kurze blaue Hosen und ein ärmelloses gelbes Unterhemd, aber das wollte ich nicht, die Reise wäre für mich noch weniger gewesen, als sie, wie ich befürchtete, wegen Carls distanzierter Laune ohnehin sein würde.) Ich trank Unmengen Limonade mit Eis und Minzeblatt. Zum Mittagessen kamen die Kongreßteilnehmer ins Hotel, ich saß mitten unter ihnen und schaute nicht von meinem Teller auf.
    Am letzten Tag des Kongresses, eben am 13. März, war ich es überdrüssig, mich nur in unserem Zimmer oder in der Halle oder im Innenhof des Hotels aufzuhalten. Ich wollte ein Stück die Straße hinunterschlendern und nach hundert oder zweihundert Metern umkehren und in die andere Richtung gehen, ebenfalls hundert oder zweihundert Meter, und noch einmal in die eine Richtung, diesmal aber auf der anderen Straßenseite, und zurück in die andere Richtung, ebenfalls auf der anderen Straßenseite. Ich hatte noch nie so hohe Häuser gesehen, sie waren so hoch, daß ich mich gar nicht richtig mit dem Gedanken abfinden konnte, es seien Häuser. Wie kann man solche Gegenstände, die eher wie glatte Felsen mit viereckigen Löchern darin aussahen, mit dem gleichen Wort belegen wie die Einfamilienhäuschen, an denen man vorbeispazierte, wenn man mit der U4 nach Hütteldorf gefahren war, um am Wienfluß entlang ins Grüne zu gelangen? Es waren so viele Menschen auf der Straße! Dauernd stieß ich an jemanden an. Ich sah

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