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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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etwas, was ich nicht verstand. Ich sagte: »Não entendo.« Da trotteten sie davon, die Gasse hinunter, woher ich gekommen war.
    Ich wollte aber nicht hinter den Buben hergehen, sie hätten sich etwas denken können, und vielleicht wären Mißverständnisse daraus entstanden. Ich dachte, wenn ich die Gasse weitergehe und bei der nächsten Abzweigung nach rechts abbiege, müßte ich wieder auf den Boulevard kommen. Ich dachte, es sei gar nicht anders möglich.
    Es war aber anders möglich. Als ich merkte, daß ich den Boulevard auf diese Weise nicht erreichte, sondern im Gegenteil, wie ich am Stand der Sonne ablesen zu können glaubte, mich immer weiter von ihm entfernte, drehte ich um, prägte mir aber den Wendepunkt ein, eine Kleidernäherei – offene Türen, offene Fenster, auf der Straße übermannshohe Kleiderständer, dazwischen zehn Nähmaschinen, vor denen Frauen saßen, Strohhüte auf dem Kopf. Ich ging, woher ich gekommen war, kam an keiner zweideutigen Gabelung vorbei; aber den Platz mit dem Springbrunnen fand ich nicht. Alles erschien mir bekannt, alles sah aus, als wäre ich eben erst daran vorbeigegangen, und doch war alles anders. Die Straße war breiter, als ich sie in Erinnerung hatte, und sie war schnurgerade, und sie ging leicht aufwärts. Wo war ich gelandet? Ich kehrte abermals um, wollte noch einmal bei der Kleidernäherei starten; aber nun fand ich die Kleidernäherei nicht. Statt dessen war an ihrer Stelle ein Viadukt. Die Häuser waren hier höchstens drei Stockwerke hoch, dazwischen dehnten sich freie Plätze, auf denen Betonrohre lagen oder Ziegel gestapelt waren oder wildes Gras wucherte. Niedrige Hütten lehnten aneinander. Als wäre ich in eine andere Stadt geraten. Die Menschen bewegten sich anders, schneller, zielgerichteter, ungeduldiger, schweigend. Sie würden mir nicht helfen wollen, dachte ich. Aber wie hätten sie mir helfen können? Ich wußte den Namen des Hotels nicht. Seit vier Tagen hatte ich das Hotel nicht verlassen, aber den Namen wußte ich nicht! Ich drehte um, lief, bis mir der Schweiß über den Rücken und die Brust rann, zwang mich zum Gehen, ging mit hängendem Kinn; die Jacke band ich mir mit den Ärmeln um den Bauch. Ich kämpfte gegen die emporsteigende Panik an, die mich unaufmerksam sein ließ und meine Erinnerungen löschte. Bald kam mir alles unbekannt vor, und ich marschierte nur noch vorwärts, weil Stehenbleiben ein Eingeständnis meiner Hoffnungslosigkeit gewesen wäre. Ich ging auf die hohen Häuser zu, die so weit entfernt waren, daß ich nicht glauben konnte, von dort gekommen zu sein. Aber einen anderen Anhaltspunkt hatte ich nicht. Ich merkte, daß ich laut vor mich hin redete. Daß ich mit meiner Mama redete. Ich war überzeugt, sie spürte weit weg von hier auf der Insel Kreta, daß ihr Kind verlorengegangen war; zugleich aber mißtraute ich meinen Gefühlen und war mir alles andere als sicher, ob es sich bei dieser Mama um meine handelte. Schließlich setzte ich mich im Schatten eines Hauses auf den Boden und war nur noch starr vor Entsetzen.
    Ich schlief ein und erwachte, weil mir jemand eine Hand auf die Schulter legte und sich zu mir niederbeugte. Es war der liebe Gott. Als ich die Augen öffnete, bestand für mich kein Zweifel. So war er uns im Religionsunterricht vorgestellt worden. Ein weißer Bart bis zur Brust. Lange, borstige weiße Haare. Der Schnauzbart über dem Mund gelblich. Auf der Stirn strenge, steile Furchen. Die Augen eines Adlers. Er sagte etwas. Ich verstand ihn nicht. Das bestätigte meinen Eindruck. Wie soll ein Mensch den lieben Gott verstehen? Portugiesisch sprach er nicht. Deutsch auch nicht. Gott spricht die Sprache aller Menschen, die allerdings kein Mensch versteht. Er zog mich an einer Hand hoch und ließ meine Hand nicht mehr los. Er führte mich, und nach wenigen Minuten waren wir vor dem Hotel. Bevor er die Lobby betrat, beugte er sich abermals zu mir nieder, legte den Finger auf meinen Mund, legte den Finger auf seinen Mund, sagte einen Satz in seiner Sprache und ließ mich stehen.
    Ich wartete ein paar Minuten vor der Drehtür, wartete auf die Freude darüber, daß ich gerettet war. Eine dumpfe Erleichterung strömte von meiner Magengrube aus; es war nicht Freude, aber es tat gut, und ich hätte mich gern eine Stunde hingelegt.
    Durch die Glasscheibe sah ich den lieben Gott und Carl in der Halle beieinanderstehen. Sie unterhielten sich; das heißt, der liebe Gott sprach auf Carl ein, als wollte er ihn von etwas

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