Abendland
irgendwann neben ihm an einer Bushaltestelle gestanden. Von mir beabsichtigt natürlich. Ich habe ihn beobachtet. Schamlos. Ein wenig gekränkt war ich. Empört sogar. Weil er mich nicht kannte. Woraus ich schloß, daß Margarida mit ihm nicht viel über mich gesprochen hat. Warum nicht? Aus Diskretion? Margarida war nicht diskret. Wenn sie etwas nicht war, dann diskret. Aus Loyalität mir gegenüber? Kaum. Bei einem so extrovertierten Menschen wie Margarida würde sich Loyalität gerade darin geäußert haben, daß sie mit ihm über mich gesprochen hätte. Er wußte, daß sie verheiratet war. Das war alles. Und er hat sich nie nach mir erkundigt. Ist das normal? Es ist nicht normal. Ich habe ihm zehn Minuten lang ins Gesicht gestarrt. Ein Mensch, der das nicht bemerkt, ist krank. Einer, den das nicht stört, ist ebenfalls krank. Er hat sich nicht gefragt, wer ist dieser Kerl, was will der, oder ob ich vielleicht Margaridas Mann sein könnte. Ich an seiner Stelle, du an seiner Stelle, wir hätten das gedacht. Neunundneunzig von hundert Männern hätten das gedacht. Neunhundertneunundneunzig von tausend. In diesen zehn Minuten – verzeih die Arroganz, es ist keine – habe ich Daniel Guerreiro Jacinto durchschaut: ein Kinderschwimmbecken, angefüllt mit klarem, kaltem Wasser. Was gibt es darin zu sehen? Ich habe Margarida einmal gefragt, ob zwischen Daniel und mir eine Gemeinsamkeit existiere. Sie sagte: ›Keine Ahnung.‹ Immer, wenn ich sie nach Daniel fragte, sagte sie: ›Keine Ahnung.‹ Oder: ›Denk nicht darüber nach, es bringt nichts, es bedeutet nichts.‹ Ich glaubte, etwas Gemeinsames entdeckt zu haben. Daniel trug einen diskret eleganten Anzug, anthrazit, ein rohweißes Hemd, eine tiefrote Krawatte mit gelben Punkten, schwarze Schuhe und einen Staubmantel in der Farbe von nassem Sand. Tadellos. Perfekt. So tadellos, so perfekt, daß keine Improvisation mehr möglich war – und auch nicht nötig war. Ich fragte Margarida, ob sich Daniel – wie ich – immer die gleichen Sachen schneidern lasse. ›Ja‹, sagte sie. Na also.
Ich weiß, Sebastian, Margarida hat dir alles erzählt. Alles, was sie wußte. Wie wir beide sie kennen, dürfen wir davon ausgehen, daß sie keinen Rest für sich behalten hat. Sie unterhielt ein so eindeutiges Verhältnis zur Wahrheit, daß man wegen Nicht-Vorhandenseins von Unwahrheit und Lüge in einem dialektischen Sinn nicht einmal von Wahrheit sprechen konnte. Sie hat einfach immer gesagt, was der Fall ist. Das ist eine merkwürdige Gabe oder ein merkwürdiger Mangel, ich konnte mich in der Beurteilung dieser Eigenschaft nie für das eine oder das andere entscheiden. Als sie während des Krieges nach Los Alamos kam, erzählte sie mir an unserem ersten Abend, daß sie Daniel in Lissabon getroffen habe. Aber erst auf meine Frage hin, ob etwas Außergewöhnliches passiert sei, seit wir uns das letzte Mal gesehen hätten. Ja. Es sei. Daß sie Daniel aufgesucht habe. Sie ihn! Sie hat ihn verführt. Daß sie mit Daniel Guerreiro Jacinto in seiner Wohnung zusammengelebt habe wie Mann und Frau. Fast vier Jahre lang. Von Ende 1939 bis Mitte 1943. Ich fragte, ob sie sich von mir trennen wolle. Sie sagte – wörtlich: ›Was für eine verrückte Frage!‹ Sie hatte tatsächlich nicht ein einziges Mal über Scheidung nachgedacht! Während der ganzen Zeit nicht. Sie hatte natürlich auch nicht mit Daniel über eine Scheidung gesprochen. Auch er hat nicht ein Wort darüber verloren. Nicht ein Wort in vier Jahren! Worüber haben die beiden denn geredet! Sie sei einsam gewesen, sagte sie, habe lange nicht gewußt, wo ich sei, ob ich überhaupt noch sei. Die klassische Antwort der klassischen Soldatenfrau. Sie hätte sich jeden anderen nehmen können. Warum gerade Daniel Guerreiro Jacinto, von dem sie sich ja getrennt hatte, weil sie mich hatte haben wollen? Über diesen Daniel Guerreiro Jacinto hatte sie gespottet. Sie und ihr Vater hatten über ihn gespottet. In meiner Gegenwart. Weil er mit Dreißig noch immer im Ornat eines Studenten der ehrwürdigen Universität von Coimbra in der Stadt herumstolzierte. Der alte Durao ist mit leicht nach hinten hängendem Oberkörper durch die Gänge seiner Wohnung gehatscht, und Margarida hat gebrüllt vor Lachen. Ich hatte damals die Partei ihres ehemaligen Verlobten, seines ehemaligen Schwiegersohns in spe ergriffen, hatte sie beide zurechtgewiesen. Es war mir unfair vorgekommen. Neben so einem Verlierer will man nicht der Gewinner sein.
Nein, das
Weitere Kostenlose Bücher