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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hatte alles nichts mit Einsamkeit zu tun gehabt, daß sie Trost brauchte und so weiter. Sicher hat sie das selbst geglaubt, irgendwie hat sie es wohl selbst geglaubt, aber auch nur irgendwie. Ich denke, diese Anhänglichkeit an diesen Mann, diesen schwachen Mann, diesen so wenig intelligenten, an rein gar nichts interessierten Mann war ihr selbst ein Rätsel, muß ihr ein Rätsel gewesen sein. Eheleute sind einander Zukunft und Vergangenheit in zunehmendem Maße und immer weniger Gegenwart, und zwar, paradoxerweise, je mehr Alltäglichkeit sie zusammen anhäufen. Eheleute leben in der Gewißheit, daß sie schon lange zusammenleben und daß sie noch lange zusammenleben werden. Margarida und Daniel aber hatten keine nennenswerte gemeinsame Vergangenheit und keine gemeinsame Zukunft, ihr Leben fand ausschließlich in der Gegenwart statt. Ich kann mir so einen Zustand nicht einmal vorstellen. Wahrscheinlich ist Gegenwart wie eine Droge, die die meisten von uns nur in rasender Flüchtigkeit ertragen. Daniel war einer, der diese Droge unverdünnt in sich aufnahm. In diesen vier Jahren – gut, sie hätten genügend Zeit gehabt, einen See von Alltäglichkeit aufzustauen, um die Gegenwart damit zu verdünnen – aber diese vier Jahre, sagte ich mir, waren eine Ausnahme – Krieg, ich verschollen, sie hatten in einem widersinnigen Ausnahmezustand gelebt: Quasi-Eheleute und Liebespaar in einem. Ich sah das Unverwechselbare ihrer Beziehung in deren Bedingtheit begründet, nicht in den Charakteren der Beteiligten – vielleicht sollte ich eingrenzen: nicht in Daniels Charakter. Das war wohl ein Irrtum.
    Margarida durfte nicht oben auf der Mesa wohnen. Das war nur den Frauen einiger weniger Wissenschaftler erlaubt, nur denen, die von Anfang an dabeigewesen waren. Wir besorgten uns am Fuß des Jemez-Plateaus in einem Ort namens Pojoaque eine kleine Wohnung, und ich fuhr am Abend hinunter, blieb über Nacht. Ein Zimmer mit einer Küche, die halb im Freien war, und ein Schlafkabinett, in ein Mückennetz gepackt. Und blühende Kakteen draußen. Ich wußte nicht, ob die Blüten echt waren oder aus Seide und nur aufgesteckt. Ich fand es sehr romantisch. Aber Margarida wurde es bald zu eng, und wir zogen nach Santa Fé. Dreimal in der Woche übernachtete ich bei ihr, den Rest der Zeit verbrachte ich bei meiner Arbeit oben auf der Mesa, es wäre sonst zu aufwendig gewesen. Das erinnert mich übrigens an meinen Vater. Wie er in seinem Brief geschrieben hatte, daß er die Erlaubnis bekommen habe, drei Nächte in der Woche zu Hause zu verbringen und nicht in der Kaserne. So ähnlich war es. Ich mußte zwar nicht um Erlaubnis ansuchen, aber man riet mir, meine Zeit in der genannten Weise einzuteilen. Es gibt wahrscheinlich keine langweiligere Stadt als Santa Fé 1944. Ich konnte es Margarida nicht verdenken, nach drei Monaten hat sie sich auf die Heimreise nach Lissabon gemacht, eine Odyssee, meine Güte! Und natürlich nahm sie die Beziehung zu Daniel wieder auf.
    Als nach dem Krieg meine Arbeit für den DMAD beendet war, hatte ich zuerst vor, von Tokio nach Lissabon zu fliegen, Margarida abzuholen und mit ihr nach Wien zu fahren, um dort endlich unser gemeinsames Leben zu beginnen. Aber ich entschied mich schon nach ein paar Tagen in Lissabon, allein nach Wien zu ziehen. Ich war zu feige, mich zu stellen. Was für ein ungleicher Kampf wäre das gewesen! Profane Zeitlichkeit trifft auf ewige Gegenwärtigkeit. Und was, wenn Daniel immer der Geliebte bleiben würde, gleich, was geschähe? Vielleicht war er ja zum Geliebten geboren, vielleicht bestand ja sein einziges Lebensziel darin, Margaridas Geliebter zu sein. Ich war immer der Meinung gewesen, der Mensch weiß bei den meisten Dingen, die er tut oder läßt, nicht, warum er sie tut oder läßt, und zwar nicht deshalb nicht, weil er die Zusammenhänge nicht versteht, sondern weil gar keine Gründe für Tun und Lassen existieren. Nur weil in der logisch-physikalischen Welt Kausalität herrscht, heißt das noch lange nicht, daß es Gründe gibt, warum Margarida nicht von diesem Mann, dessen Bestes sein Name war, loskommen konnte. Ich schrieb Margarida aus Wien einen Brief, gleich nachdem ich gelandet war. ›Wenn Du es willst, komm!‹ Die Wahrscheinlichkeit, daß sie der Brief erreichte, war sehr gering. Tatsächlich hat sie ihn nicht erhalten. In Wien bewegte ich mich in einem Niemandsland und in einer Niemandszeit, im Nirgendwo und Nirgendwann. Das hat mir die Brust erleichtert.
    Im

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