Abendland
Herbst 1947 trafen wir uns in Marseille. Ich hatte mit ihr telefoniert, hatte sie angelogen, hatte gesagt, ich müsse in Marseille etwas erledigen, etwas Geschäftliches. ›Treffen wir uns auf halbem Weg‹, hatte ich am Telefon zu ihr gesagt. Aber Margarida hat dies nicht in einem übertragenen Sinn verstanden, wie es von mir beabsichtigt war. Am Abend sind wir trotz der Warnung des Hotelmanagers durch den Hafen spaziert, der sich immer noch in einem schreienden Zustand befand. Wir waren uns vertraut wie ein altes Ehepaar. Ich fragte sie, und sie antwortete: ›Ja.‹ Ich habe nur gefragt: ›Hast du ihn getroffen?‹ Mehr nicht. Mehr wollte ich nicht wissen. Weil ich mich vor den Details fürchtete. Solange ich die Box nicht allzuweit öffne, dachte ich, so lange darf ich Hoffnung haben, die Katze sei moribund und nicht in der Lage, mir ins Gesicht zu springen. Nach diesem Treffen haben wir fast zwei Jahre lang nichts voneinander gehört.
Schließlich schrieb ich ihr noch einmal einen Brief. Das war im März 1949. Ich hatte deinen Vater kennengelernt und deine Mutter und hatte meinen Beitrag geleistet, damit sie zueinanderfanden, und nun wollte ich, daß auch Margarida und ich wieder zueinanderfinden. ›Ich lebe in einem leeren Haus‹, schrieb ich. ›Komm zu mir!‹ Und sie ist gekommen. Wieder habe ich sie gefragt. ›Ja‹, sagte sie, ›ich habe Daniel getroffen.‹ ›Getroffen?‹ fragte ich. ›Wir haben zusammengelebt‹, sagte sie. ›Ihr habt zusammengelebt‹, sagte ich, ›wie wir beide nie zusammengelebt haben. Du kennst ihn viel besser als mich. Du hast viel mehr Nächte neben ihm gelegen als neben mir. Wäre es nicht logisch, sich einzugestehen, daß er der richtige ist für dich? Willst du die Scheidung?‹ Und sie sagte wieder: ›Was für eine verrückte Frage! Natürlich will ich mich nicht scheiden lassen.‹ Sie zog zu mir nach Wien. Nicht die geringsten Anzeichen von Sehnsucht konnte ich an ihr feststellen. Daß ihr Daniel fehlte. Nein. Was für eine kapitale Frau! Wir haben nie mehr über ihn gesprochen.
In den folgenden Jahren waren Margarida und ich dreimal in Lissabon, jeweils im Sommer, in den Semesterferien. Ich weiß es nicht, aber ich nehme an, sie hat sich bei diesen Gelegenheiten mit Daniel getroffen.
Als wir gemeinsam mit dir in der Rua do Salitre waren, habe ich es ihr eines Abends angesehen. Überdeutlich. Ich sah ihr an, daß sie soeben mit ihm aus dem Bett gestiegen war. Ich sah es ihr an. Und ich fragte sie wieder. Und sie sagte: ›Ja.‹ Wir waren noch keine fünf Tage in Lissabon. Ich fragte: ›Wirst du ihn weiterhin treffen?‹ Sie sagte: ›Ja.‹ Sie verabredeten sich an den späten Nachmittagen nach seiner Arbeit in einem Hotel. Er war inzwischen verheiratet, ein Mann Mitte Vierzig, hatte einen Job in einem biologischen Institut, einen Verwaltungsjob. Ich wußte, es mußte etwas geschehen. Wenn nichts geschähe, würde es so weitergehen bis an unser Lebensende. Würde ich mich daran gewöhnen können? Vielleicht. Aber ich wollte es nicht. Unter gar keinen Umständen! Und wahrscheinlich würde ich mich gar nicht daran gewöhnen können. Als Margarida vorschlug, daß du mich an ihrer Stelle nach São Paulo begleiten solltest, sagte ich zu ihr: ›Denk’ über eine Lösung nach, Margarida! Denk’ darüber nach! Und wenn ich aus São Paulo zurück bin, sag’ mir, was du rausgekriegt hast!‹ Ich wolle ebenfalls darüber nachdenken, sagte ich. Und ich habe darüber nachgedacht. Das Ergebnis dieses Nachdenkens lautete: Entweder läßt sich Margarida von mir scheiden, oder sie bricht jeden Kontakt zu Daniel Guerreiro Jacinto ab, sofort und für immer. Wenn weder das eine noch das andere, werde ich Maßnahmen ergreifen müssen. Ich zählte die Stunden bis zu unserer Rückkehr.
In der Nacht, nachdem du und ich wieder in Lissabon gelandet waren, fragte ich sie wieder. Sie sagte: ›Ja, ich habe Daniel getroffen.‹ ›Und die Lösung?‹ fragte ich, ›was ist die Lösung?‹ ›Wir fahren ja in ein paar Monaten wieder nach Wien zurück‹, gab sie zur Antwort.
Es war klar, es würde so weitergehen. Bis zu unserem Lebensende. Also ergriff ich Maßnahmen.«
Ich höre mich auf dem Band aus der Ferne sagen: »Ich ahnte in São Paulo, daß du etwas Furchtbares vorhattest.«
Carl sagt: »Das will ich dir glauben, ja. Du bist ein sensibler Mensch. Ich erinnere mich, daß du auf dem Rückflug sehr einsilbig warst, und ich dachte: Was habe ich falsch gemacht? Womit habe ich
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