Abendland
ihn gekränkt?«
Ich: »Ich dachte, du nimmst mich gar nicht wahr.«
Er: »Dieser Eindruck war falsch.«
Ich höre, wie er die Teetasse auf den Unterteller setzt, ein Geräusch, ungeheuer nahe – die Tasse stand auf dem Beistelltischchen neben dem Diktiergerät –, so nahe, als wäre im Vordergrund ein Dritter, der Dinge tut, aber nichts sagt, der mithört, auf den aber nicht Rücksicht genommen wird.
Carls Stimme: »Jemand, der keinen Mord begangen hat, kann nicht wissen, was in ihm nach einer solchen Tat vorgehen wird. Ich aber wußte es, denn ich hatte zweiunddreißig Jahre zuvor Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin ermordet. Er war zwar nicht daran gestorben – wenn ich diesen Witz loswerden darf –, aber das hatte ich sechs Jahre lang nicht gewußt. Sechs Jahre lang hatte ich geglaubt, einen Menschen getötet zu haben. Also durfte ich behaupten: Ich weiß, was in mir vorgehen wird, wenn ich einen Mord begangen habe. Der Gedanke, ein Mörder zu sein, war für mich sehr unangenehm, wirklich sehr unangenehm gewesen, aber ich hatte ihn ausgehalten, und irgendwann hatte wieder Normalität in meinem Kopf geherrscht, so viel Normalität, daß ich mich mit dem besten Gewissen über eine Mordtat empören konnte, von der ich in der Zeitung las. Als mir Frau Professor Noether in Kinnelon, New Jersey, mitteilte, Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin lebe in New York und sei wohlauf und lasse mich grüßen, da stellte ich zu meiner heiteren Verwunderung fest, daß ich mich neben aller Erleichterung auch mit einem Gran Wehmut von dem Gedanken verabschiedete, ein Mörder zu sein. Der Mörder hatte sich mir eingebrannt, er war zu einem Teil meiner Identität geworden, zu einem Element meines Ichs. Ich hatte eine Tat abgelitten, die ich zwar beabsichtigt, aber nachweislich nicht begangen hatte.
Ob ich ein Verbrechen begehe oder nicht, hängt selbstverständlich von mir ab, das will ich um Himmels willen nicht bestreiten, aber es hängt nicht nur von mir ab. So viele Gelegenheiten hat ein Mensch im Laufe seines Lebens, ein Verbrechen zu begehen! Wie lange dauert dieses Leben? Je länger es dauert, desto öfter, statistisch gesehen, gerät er in Zusammenhänge, die ihm ein Verbrechen nahelegen. Zu welcher Zeit findet dieses Leben statt? An welchem Ort? Ein Mann, der im vierzehnten Jahrhundert in der Nähe von Paris lebt und siebzig Jahre alt wird, hat gute Chancen, ein Verbrechen zu begehen, eine Menge Faktoren kommen zusammen, die ein Verbrechen begünstigen – außer er ist ein halber Heiliger oder hat einfach Glück. Du siehst, Sebastian, ich versuche, die böse Tat zu relativieren. Und das im moralischen Sinn Fatale daran ist, daß ich das Wort ›relativieren‹ völlig korrekt verwende, daß ich mich nicht zu schämen brauche, nicht von ›rechtfertigen‹ oder gar von ›entschuldigen‹ gesprochen zu haben. Diese beiden Begriffe hätten ja nur Bedeutung in bezug auf eine Gemeinschaft, die moralisch höher steht als der, der diese Begriffe zu seiner Verteidigung vorträgt. Zur Zeit des Hundertjährigen Krieges waren Verstöße gegen Gesundheit und Leben an der Tagesordnung, es wurde gemordet nicht nur aus Gier oder Haß oder perverser Lust, sondern bereits aus purer Bequemlichkeit oder einfach weil einem langweilig war. Das Gewissen der Gemeinschaft war auf dem Hund. Wie sollte man vom Gewissen eines Mannes verlangen, daß es sich über den Konsens erhebt? Außer eben, er ist ein halber Heiliger oder ein ganzer oder er hat das Glück und ist gierig, wenn gerade kein anderer in der Nähe ist, oder er haßt, wenn gerade kein anderer in der Nähe ist, oder er hat perverse Gelüste, wenn gerade kein anderer in der Nähe ist, an dem er sie ausleben könnte, und das gleiche, wenn er sich unbequem fühlt oder wenn ihm langweilig ist. Im Vergleich zu meinem Jahrhundert aber war das vierzehnte Jahrhundert ein Lehrling. Ich war gerade acht Jahre alt, als eine Massenschlächterei begann, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Und in was für schönen Bildchen wurde für diesen Krieg geworben! Und dann: Zu der Zeit, als Stalin sich anschickte, Hunderttausende, ja Millionen umbringen zu lassen, war ich als Student für ein Semester in Moskau und habe Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin die Faust gegen die Brust geschlagen, so daß er in den Vodootvodnyi-Kanal gefallen ist – was soll’s? In der Blüte meines Lebens habe ich drei Jahre mitgeholfen, eine Bombe zu bauen, die in Sekunden achtzigtausend Menschen getötet hat. Nach
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