Abendland
sehr Wichtigem überzeugen. Und da schoß mir der Gedanke durch den Kopf, Carl könne doch nur der Teufel sein. Mit wem sonst würde der liebe Gott so wortreich in seiner Sprache sprechen können? Mit wem sonst würde er es wollen? Wen sonst gab es, den der liebe Gott so wortreich zu überzeugen versuchte? Mir hatte niemand von Faust erzählt oder von Hiob. Ich wußte nicht, daß sich die beiden von Zeit zu Zeit treffen. Aber es war doch logisch, oder? Es gab Dinge zu besprechen. Es mußte Dinge geben, die nur auf höchster Ebene besprochen werden konnten. Und ich? Was war mit mir? Ich war als Begleiter des Teufels in diese Stadt gekommen. Ich hatte mich in dieser Stadt verirrt. Der liebe Gott hatte mich gefunden. Und er hatte mich dem Teufel zurückgebracht. Was hatte das alles zu bedeuten? Wie hätte ich mich verhalten sollen? Hätte ich mich dem lieben Gott widersetzen sollen? Wäre das meine Prüfung gewesen? Wie sollte ich mich nun verhalten? Was erwartete der liebe Gott von mir? Meine Eltern hatten sich davongemacht und mich dem Teufel anvertraut. Wußten sie, was sie getan hatten? War mit ihnen abgesprochen worden, was mit mir in dieser fremden Stadt geschehen würde? Und Margarida? Sie würde auf meiner Seite sein. Davon war ich überzeugt. Ich wußte es. Ja, das wußte ich.
Was ich für die Sprache aller Menschen gehalten hatte, die ein Mensch nicht versteht, war Schwedisch gewesen, und der liebe Gott hatte einen Namen; er war kein Geringerer als der Logiker Per Johan Bexelius von der Universität Stockholm gewesen. Er hat Carl nicht verraten, daß er mich auf der Straße gefunden hatte; und ich habe Carl diese Geschichte nie erzählt. Margarida habe ich sie erzählt. Und Maybelle.
(Übrigens: Erst als wir wieder in Lissabon waren, erfuhr ich – und auch nur zufällig –, daß São Paulo in Brasilien liegt. Ich hatte es tatsächlich nicht gewußt! Ich, der ich mich so sehr für Erdkunde interessierte, daß ich sogar mein Tagebuch danach benannte! Margarida und Carl hatten immer nur von São Paulo gesprochen, hatten als selbstverständlich vorausgesetzt, daß ich wisse, in welchem Land diese Stadt liegt. Brasilien! Ich war in Brasilien gewesen! In dem Land, in dem Vava, Didi und Mario Zagallo lebten, Zito, Bellini. Und Pelé, der beste Mittelstürmer der Welt. Ich war in dem Land gewesen, in dem Garrincha lebte, mein absoluter Liebling, dem ich nach der Fußballweltmeisterschaft von 1958 ein pralles Sportheft gewidmet hatte: Manoel Francisco dos Santos, geboren im Urwald, rechtes Bein O, linkes Bein X, linkes Bein zudem sechs Zentimeter kürzer, der »Engel mit den krummen Beinen«, wie er genannt wurde, »Der Stolz des Volkes«, der Clown, der seine Gegner mit seinen Dribblings in Verwirrung jagte. Eine Zeitlang hatte über meinem Bett ein Zeitungsbild von Garrincha gehangen. Meine Mutter hatte es ausgeschnitten und mit einer Stecknadel an die Tapete geheftet. – Ich war in Brasilien gewesen und hatte es nicht gewußt!)
5
Nachdem ich uns ein paar Brote mit Wurst und Käse gerichtet und eine Kanne von Frau Mungenasts Kräutertee aufgewärmt hatte, sagte Carl, ich solle mein Diktiergerät holen und es neben ihn auf den Beistelltisch stellen, wie ich es an unserem ersten Abend getan hatte; er wolle mich »nicht in die Verlegenheit bringen, das Folgende in eigene Worte fassen zu müssen«.
Wenn seine große Rede an unserem ersten Abend in ihrem Duktus etwas Memoirenhaftes gehabt hatte, so war sie nun, an unserem letzten Abend – was ich jedoch nicht wußte –, eine Beichte und nichts anderes.
Carls Stimme: »Sebastian, hörst du mir zu? Als wir beide, du und ich, in São Paulo waren – hörst du mir zu? –, war mein Hauptgedanke zu jeder Stunde gewesen: Ich werde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht umhinkommen, einen Menschen zu töten.
Margarida dachte, ich sei Daniel Guerreiro Jacinto nie begegnet, ihrem Geliebten, ihrem ehemaligen Verlobten, dem schönen Mann mit dem schönen Namen. Das stimmte aber nicht. Ich habe ihn beobachtet. Ich würde sagen, bei jedem unserer Besuche in Lissabon fand ich Gelegenheit, ihn zu beobachten. Es war nicht schwer gewesen herauszubekommen, wo er arbeitete, wo er wohnte, wie seine Lebensverhältnisse waren. Dieser gutaussehende Mann. Einer, den nichts aus der Ruhe zu bringen schien. Auch nichts Interessantes. Angenommen, man hätte den Zeigefinger Gottes ausgegraben, er hätte zu denjenigen gehört, die mit der Schulter gezuckt hätten, wenn überhaupt. Ich war
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