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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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eingefallenen Brust. Wenn er einatmete, drang ein leiser, klagender Laut aus seinen Bronchien, den ich aber nicht als Schmerzenslaut deutete, sondern als rein physikalischen Effekt, ausgelöst durch die leichte Schaukelbewegung seines Oberkörpers. Die Haltung von Nacken und Schultern zeigte, daß er sehr müde war. Auch entmutigt? Weil er etwas ans Licht gezerrt, aber dennoch nicht erhellt hatte? Weil sich in seinem Stadium alles nur noch zwischen Schlaf und Verausgabung abspielte? Alle Dinge waren wesentlich geworden, ihre Betrachtung und Beurteilung aber eilig; keine Muße blieb mehr für ein tastendes Experiment oder für eine Tändelei; nicht leisten konnte man sich verschwenderische Begründungen für Haltungen, die man ja doch nur probeweise einnahm, um zu prüfen, wie es sich anfühlte, ein Mensch mit solchen Gedanken zu sein; aber auch keine Kraft war mehr übrig für den Kampf, der den Zweifel verdrängte; alles lief auf Kapitulation hinaus; und der Stolz der Wissenschaft, das Gerüst dieser Persönlichkeit, wurde im Endstadium dieser Person nur mehr als Sturheit registriert, als rührendes, kurioses, kleinhäuslerisches Sichgrämen, es könnte jemand oder etwas eine Perle aus der Krone seiner agnostischen Integrität brechen. So klaffen Person und Persönlichkeit am Ende auseinander; die eine wird konkret wie ein Klumpen Lehm, die andere verflüchtigt sich zur reinen Idee, steigt auf zur Sonne, leichter als Helium. Früher hatte er im ersten Stock der Villa geschlafen, in einem schmalen Zimmerchen nach hinten hinaus zu den Tannen. Seit fast zwei Jahren habe er das Erdgeschoß nicht mehr überwunden, erklärte er mir sarkastisch. Das Zimmer oben war unverändert; museal, als wäre der wahre Besitzer verstorben. Ein Bett und ein Hometrainer standen dort; das Bett, nichtssagend spartanisch, ebenso die Stehlampe am Kopfende. Keine Bilder waren an den Wänden, kein Bücherbord; statt eines Nachtkästchens ein Schemel mit einer Wasserflasche und einem Wecker und einem Transistorradio (er war jeden Morgen wenige Minuten vor sechs aufgewacht und hatte die ersten Nachrichten gehört). An den Wänden ein heller ockerfarbener Anstrich. Fußboden aus unbehandelten Fichtenriemen, kein Teppich. Seine Kleider und Wäsche – alles im Dutzend und gleich – verwahrte er in einem Schrankzimmer, das mit Zedernholz ausgeschlagen war, um die Motten abzuhalten, und das den Kleidungsstücken zusammen mit dem seit Anbeginn gleichen Rasierwasser und einem feinen Hauch von Tabak den unverkennbaren Geruch gab, den ich so sehr geliebt hatte. Mir war die Kargheit von Carls Schlafraum unheimlich. Insektenhaft erschien sie mir. Als vollzöge sich hier in der Nacht eine Metamorphose zurück in ein puppenhaftes Dasein. Vor dem einzigen Fenster hing ein Rouleau aus schmalen Holzleisten, das die Welt draußen wie durch ein Facettenauge zeigte. Er sehe die Dinge, wie sie seien, weshalb ihm Vergleiche schwerfielen. Margarida hatte das gesagt, als ich einmal vor ihr meine Verwunderung darüber ausdrückte, daß Carls Schlafzimmer gar so mönchisch eingerichtet sei. Ich dachte lange über ihre Antwort nach; ich glaubte, es sei eine kluge Charakteristik ihres Gatten, aber ich wußte nicht, warum ich das glaubte. Weil sie es gesagt hatte. Mit ihren ungefügten Bildern und den ohne ersichtliche Kausalität darin verwobenen Argumenten bewies sie für mich ihre liebenswerte Vitalität; ich war vernarrt in ihr sprachliches und gedankliches Kauderwelsch. »Aber«, fragte ich weiter, »sein Arbeitszimmer, es quillt über von Papier und Büchern und Schallplatten und Bändern und Bildern und den kleinen Dingen, die er gesammelt hat.« »Was Quatsch ist, stammt von mir«, antwortete sie. »Das Arbeitszimmer ist sein Tag, und am Tag ist dieser Mensch nicht nur, was er ist. In der Nacht aber trifft er allein sich selbst.« Der Ausdruck »dieser Mensch« hatte mich beunruhigt – ein Ableger des großen Verrats: Ich kenne diesen Menschen nicht. In der Nacht trifft dieser Mensch sich selbst und träumt dort weiter, wo er in der vorangegangenen Nacht unterbrochen worden war: träumt vom schwankenden, zuckenden, mit keiner Formel berechenbaren Flug des Schmetterlings.
    Margarida hatte ebenfalls im ersten Stock geschlafen, sie: mit Blick nach Süden; ein freundlicher, heller Raum, den sie mit Hilfe mehrfarbiger, spinnwebfeiner Vorhänge noch freundlicher gestaltete. Ihr Bett war breit und üppig mit Kissen belegt und von ähnlichen hauchdünnen Vorhängen

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