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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Du erinnerst dich nicht? Wir waren sicher zweimal mit dir dort. Eine Kuchentheke aus Kristall, Aluminium und schwarzem Holz, geschwungen wie eine Sichel unter einem Sonnenstrahlenrad aus Neonröhren. Du warst ein merkwürdiges Kind. Hast Knoblauch gemocht, hast Fisch gemocht, hast Lammfleisch gemocht, hast Spinat gemocht, aber vom Kuchen hast du immer nur probiert, immer hast du mehr als die Hälfte auf deinem Teller gelassen. An diesem Abend war es in der Rua do Salitre, wie es in der Anichstraße in Innsbruck gewesen war. Wir waren wieder eine Familie. Du hast den Tisch gedeckt, wie Margarida es dir beigebracht hatte. ›Das Menü schmeckt um so besser, je mehr Besteck und Teller und Schalen und Gläser auf dem Tisch stehen.‹ Was war der Grund für diese Feierlichkeit? Du hast dich sogar zum Essen umgezogen. Margarida auch. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und hat ihre Zigaretten mit einer Spitze geraucht. Du hast den Butler gespielt. Hast mir Suppe in die Schale gegossen, bist auf der richtigen Seite gestanden, die linke Hand hast du dir dabei in den Rücken gelegt. Nach jedem Handgriff hast du zu Margarida geblickt. Oder du hast gesagt: ›Darf ich dir noch einmal nachlegen?‹
    In der Nacht, als Margarida und ich das Licht gelöscht hatten, hat zum Abschluß dieses bemerkenswerten Tages nun auch Margarida Konjunktiv gespielt. Im Konjunktiv gilt alles. Nichts, was im Konjunktiv gesagt wurde, darf einem je angerechnet werden: ›Angenommen, Agnes und Georg kommen nicht mehr zurück‹, sagte sie leise. ›Ich wünsche mir ja nicht, daß ihnen etwas passiert, um Gottes willen, nein. Das weißt du doch.‹ ›Ja, das weiß ich‹, sagte ich. ›Angenommen‹, wollte sie fortfahren, aber ich unterbrach sie: ›Ja‹, sagte ich, ›in diesem Fall bleibt er bei uns.‹ Und nun entwarf sie ein Szenario einer imaginären Familie. Teilte mir deren Grundsätze mit. Die schlagwortartige Handlichkeit ihrer Thesen verwandelte das Unwirkliche in Wirklichkeit. So überzeugend operierte sie mit dem Konjunktiv, daß er schließlich alles Konjunktivische verlor.
    Ich habe dich vor etlichen Tagen nach deiner ersten Erinnerung gefragt, und du warst so freundlich, mich darin vorkommen zu lassen als derjenige, der dir das Schwimmen beibrachte. Du hast mich bei dieser Gelegenheit und, wie ich annehme, nicht ohne Hintergedanken, gefragt, ob ich mich an einen anderen gemeinsamen Besuch in den Donauauen erinnere, an damals, als in Simmering das Reifenwerk abgebrannt war und über der Stadt eine himmelhohe schwarze Rauchwolke stand. Ich sagte, ich erinnere mich nicht. Aber das war nicht wahr. Ich erinnere mich sehr gut. Das war zwei Jahre bevor wir mit dir zusammen nach Lissabon gefahren waren. Ich sei plötzlich verschwunden, hast du gesagt. Ja. Ich war plötzlich verschwunden. Ich war eifersüchtig. Ich war auf deinen Vater eifersüchtig. Das heißt, nein, Eifersucht beschreibt es nicht. Ich wußte ja, daß Margarida nichts von deinem Vater wollte, ich meine in erotischer, in sexueller Hinsicht. Aber in familiärer Hinsicht – wenn ich mich so ausdrücken darf. Sie hätte besser zu ihm gepaßt als zu mir. Margarida und Georg wären die richtigen Eltern für Sebastian gewesen. Und deine Mutter und ich, ich denke, wir hätten auch gut zusammengepaßt. Das weiß sie. Aber frag’ sie nicht danach, wenn du sie triffst. Tu’ das bitte nicht.«
    Ich höre mich sagen: »Was war weiter?«
    Carl: »Du meinst in der schrecklichen Sache? Gar nichts. Ich bin am nächsten Tag nicht mehr am Tejo entlanggegangen. Ich war in der Position eines Mannes, der nur gewinnen konnte.«
    Ende dieser Bandaufzeichnung.

Fünfzehntes Kapitel
1
    Gegen Ende seiner Erzählung hatte er Mühe zu sprechen. Die Wirkungskurve des Morphiums, so erklärte mir Robert Lenobel, müsse ich mir als eine entlang eines Viertelkreises nach unten weisende Linie vorstellen; das heiße, die Wirkung nehme nicht geradlinig ab, sondern stürze ihrem Ende entgegen. Die Schmerzen stellten sich nicht allmählich ein, sie überfielen den Patienten. Es werde deshalb dringend empfohlen, die Wirkung nicht an ihr Ende kommen zu lassen; wenn sich die ersten Anzeichen des Schmerzes meldeten, solle unverzüglich ein neues Pflaster aufgelegt werden. Frau Mungenast wußte das. Allein die Anwesenheit von Frau Brugger hatte bewirkt, daß sie diese erste ihrer Pflichten ignorierte.
    Ich schob Carl im Rollstuhl in sein Schlafzimmer hinüber. Da war es bald Mitternacht. Sein Kopf wippte über der

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