Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Augenweide tötet.«
    Die zeitgenössischen Kommentatoren des Prozesses überschlugen sich in ihren Spekulationen, das Motiv der Morde betreffend, wie ich in den diversen Zeitungen aus den Jahren 1909 und 1910 nachlesen konnte. In jeder großen deutschen und österreichischen Zeitung wurde über den Prozeß ausführlich berichtet, ebenso in der London Times und in Le Figaro (Evelyn hat mir den Artikel aus dem Stegreif übersetzt), in Kolumnen wurde spekuliert, die Meinungen von nicht am Prozeß beteiligten Fachleuten wurden abgedruckt, über Diskussionen in psychologischen Vereinigungen und okkulten Zirkeln wurde berichtet. Sogar im Deutschen Reichstag wurde darüber gesprochen; dort fand sich wenigstens einer, der meinte, genau benennen zu können, was hinter den Morden steckte, und zwar ein geheimer kaiserlicher Befehl an einen selbstlosen Helden. Kaiser Wilhelm II. persönlich, so führte der konservative Abgeordnete von Oldenburg-Januschau aus, habe in einem dem Normalbürger freilich unverständlichen Schachzug den tapferen Hanns Alverdes in die Schlacht geschickt; woraufhin ihm ein sozialdemokratischer Abgeordneter aus dem Plenum zurief: »In was für eine Schlacht denn?«; was der Redner parierte mit: nur die dumme Linke hätte noch nicht begriffen, daß längst schon ein Krieg tobe, ein Weltkrieg sogar (29.1.1910!). »Der deutsche Kaiser ist nicht nur jeden Moment imstande, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann, und schließen Sie den Reichstag, sondern er verfügt, wie wir nun sehen, auch über eine anonyme Staffel von Spezialisten, die er jederzeit und an jedem Ort der Welt zum Einsatz bringen kann.«
    Besonders danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Dr. Michael Haritz von der Justizverwaltung des Geheimen Staasarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin, der mir ein nachsichtiger Berater und ein kundiger Führer durch die Akten des Prozesses war.
    Carls Erzählung als Grundlage, ergab sich aus meinen Recherchen folgendes Bild:
    Im Frühjahr 1895 tauchte der dreiundzwanzigjährige Hanns Alverdes in Südwestafrika auf. Er reise für mehrere deutsche Firmen, vertrete aber auch Kollektionen portugiesischer, englischer, französischer, belgischer, holländischer, spanischer, ja sogar amerikanischer Waren. Er sei, sagte er, ein scout , worunter der Vorläufer des Handelsvertreters zu verstehen sei, welcher – eben wörtlich – dem eigentlichen Händler vorauslaufe. Solche Aufgabenteilung habe sich im Kongo, wo er bisher tätig gewesen sei, als nützlich und zukunftsträchtig erwiesen. Die Zeiten nämlich, in denen das alte Europa mit ein paar Kisten Glasperlen und ein paar Rollen Messingdraht hier einmarschiert sei und mit diesem unverschämten Plunder schwarze Arbeitskräfte für den Abtransport von Elfenbein angelockt habe, diese fröhlichen Zeiten seien vorbei; viele Eingeborene hätten sich inzwischen selbst zu prächtigen Händlern gemausert; die Zukunftschance gerade der deutschen Kolonien liege darin, Stützpunkte des Zwischenhandels zu sein. Was bisher ein Nachteil gegenüber Belgien, Frankreich und vor allem England gewesen sei, nämlich daß Deutschland erst verhältnismäßig spät sein Kolonialgeschäft aufgebaut und deshalb die beste Zeit der Ausbeutung verpaßt habe, verwandle sich nun in einen Vorteil; denn erstens sei der Ruf des Deutschen Reiches bei den Eingeborenen unbeschadet, zweitens seien Schürfen, Einfangen und Pflücken allemal teurer und risikoreicher als mit Geschürftem, Eingefangenem und Gepflücktem zu handeln. Außerdem und »unter uns gesagt«: Auch dem gierigsten Südwestler sei doch inzwischen klargeworden, daß aus diesem Land nichts zu holen sei, keine wertvollen Metalle, keine wertvollen Gewürze, kein Elfenbein. Dieses Land biete Lebensraum, das ja. Ein deutscher Farmer aber ist kein Eroberer. Der Bauer braucht Frieden, und Frieden beruht auf Handel, und Handel beruht auf Gleichheit. Die richtige Frage also laute: Wer braucht was? Und um genau das festzustellen, ziehe der Scout friedlich und freundlich von Farm zu Farm, von Negerkral zu Negerkral, von den Belgiern zu den Holländern, von den Franzosen zu den Engländern, vom Bergwerk zur Missionsstation und insbesondere von deutschem Bauernhof zu deutschem Bauernhof …
    In dieser Weise belehrte Alverdes den »Direktor der Deutschen Kolonialgesellschaft« in Angra Pequena. Der nahm diese Belehrung eifersuchtsfrei und gelassen entgegen, erwies sich der junge Mann doch als ein ausgezeichneter Kenner der

Weitere Kostenlose Bücher