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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Geographie des Landes; außerdem behauptete dieser, wenigstens drei Eingeborenensprachen – Otjiherero, Oshivambo und Nama – gut genug zu verstehen und zu sprechen, um mit den Häuptlingen zu verhandeln. Der Direktor (seinen Namen konnte ich nicht in Erfahrung bringen) befand sich bereits seit sechs Jahren in diesem Land und war in einem Ausmaß demoralisiert, das an Irrsinn grenzte. Ihm war alles recht. Den »Direktor« hatte er für sich erfunden, hier hätte er sich auch »Zar« oder »Papst« oder gleich »Gott« nennen können. Er trug ein Uniformhemd, von denen er zwei besaß, beide waren fadenscheinig wie ein alter Regenschirmbezug. Es irritierte ihn nicht, daß dieser beredte, in lässigem frischem Khaki gekleidete Mann mit den flinken, unsteten Augen und den zielfesten Gesten noch so jung war. Er fragte ihn auch nicht, auf welche Weise er zu seinen Erkenntnissen gekommen und wie lange er überhaupt schon in Afrika sei. Es war ihm alles recht, weil ihm alles egal war. Sie saßen auf der Veranda der jämmerlichen Baracke, die das »Büro des Direktors« darstellte, tranken saure Limonade, knabberten Bremer Kekse, die auf Schiffen über ein Viertel der Weltkugel hierhertransportiert worden waren, um Heimweh zu wecken und Heimweh zu stillen, saßen auf den breiten Sesseln aus Peddigrohr, die der Direktor am Beginn seiner Tätigkeit mit viel Begeisterung für Repräsentation (vor wem eigentlich?) und noch viel mehr Mühe erworben hatte. Sie blickten hinaus auf die Bucht. »Das Meer ist überall gleich, der Seemann trägt sein Haus mit sich und ist deshalb nie einsam. Aber die, die das Schiff verlassen, denken an das Meer wie an eine Prüfung, und was an Land vor ihnen liegt, ist gelb und bloßer Boden, auf dem ums Verrecken nichts wachsen will. Hier ist alles möglich. Deine Grenzen sind dir so nah an den Leib gerückt, daß sie zu einer Art Haut geworden sind und du dir einbilden kannst, du seiest grenzenlos.«
    Hanns Alverdes predigte unbeirrt weiter: »Nicht fragen: Ist dieser hier ein guter Mensch oder ein schlechter? Ist er ein Christ oder ist er keiner? Ist seine Haut weiß oder ist sie schwarz? Solche Fragen gehören ins Private. Im Geschäft heißt es: A hat das eine, B hat das andere, C braucht das eine, D braucht das andere, und alle haben sie keine Zeit, einander zu besuchen, keine Zeit oder keine Lust. Geschäfte aber kann man auch mit dem Feind machen, man braucht nur jemanden, der sie für einen abwickelt. Wenn dir der Feind die Kugeln verkauft, die du zu deiner Verteidigung gegen ihn brauchst, kauf sie ihm ab, bezahle ihn anständig, du nimmst ihm damit einen Grund, gegen dich Krieg zu führen. Und wenn er dir so sehr zuwider ist, daß du ihm nicht in die Augen schauen möchtest, engagiere einen Scout, der die Verhandlungen für dich führt. Die Franzosen und die Engländer, die Portugiesen und die Spanier, die Holländer und die Belgier, mein Gott, sie alle plagen sich mit ihren Kolonien ab, verprügeln die schwarzen Hintern, anstatt ihnen Hosen aus Manchester oder Paris oder Antwerpen anzupassen. Was bringt’s am Ende? Wenig. Seien wir ehrlich: heutzutage nur noch wenig. Mühe, Sorge, bisweilen Blut und einen recht matten Schimmer Ehre. Vor allem aber Haß und Aufruhr. Wir Deutschen in Afrika müssen uns ein Beispiel an den Juden in der Welt nehmen: nirgends sich einmischen, überall mitmischen. Sollen die großen Herren der Welt sich ruhig zusammensetzen, mit Lineal und Bleistift bewaffnet, und diesen Kontinent unter sich aufteilen!« faßte er, auf die internationale Kongo-Konferenz anspielend, seine Rede zusammen. »Ich bin ein deutscher Scout, und als solcher kenne ich keine Grenzen. Ich handle mit allen und mit allem.«
    Nicht daß sich der Direktor von der Begeisterung seines Gastes anstecken ließ; aber das Heimweh und die Einsamkeit und der Teufel der Organisationslosigkeit, der alle Mühe in Müdigkeit untergehen ließ wie in einem Sumpf, hatten ihn restlos resignieren lassen, so daß er inzwischen in der Lage war, die Dinge realistisch zu sehen. Und realistisch betrachtet, gab es in der Rede des jungen Mannes nichts, was seinen Widerspruch erregte.
    »Daß der Deutsche der Jude Afrikas ist«, brummte er, »das gefällt mir. Sagen Sie es nur niemandem weiter.«
    Alverdes hatte, was die Lage der deutschen Kolonien in Afrika betraf, recht: Friede war mehr als ein ethisches Postulat, er war ein politisch lebensnotwendiges Programm. Die deutschen Handelsgesellschaften waren lang bar

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