Abendland
die aber, wie ich aus frustrierenden Erfahrungen wußte, dem Schreiben nicht zuträglich war; im Gegenteil: Es ist nicht gut, sondern schlecht, sich in der Stimmung an den Schreibtisch zu setzen, die schreibend erst erzeugt werden soll. Als ich fünfzehn war und meine erste Geschichte geschrieben hatte, genauer: nicht die erste Geschichte, die ersten paar Sätze meiner ersten Geschichte, war ich von einer Fremdheit erfüllt gewesen, die war während des Schreibens in mir aufgestiegen, die ließ mich Dinge denken, die ich vorher nie gedacht hatte, die gab mir auf, wie ich ein Wort hinter das andere reihen sollte – nach einer Stunde hatte ich abgebrochen, ich war zu aufgewühlt gewesen, auch zu erschöpft. Bei jeder Geschichte, die ich später schrieb, am Beginn zu jedem neuen Buch, war die Sehnsucht nach dieser Fremdheit gewesen. Nun ging es mir wieder so. Ich fuhr mit dem Bus zum Albernen Hafen hinaus und spazierte vier Stunden an der Donau entlang und fühlte mich jung, fühlte mich wie jemand, dem – nachdem er zwanzig Bücher geschrieben hatte – klargeworden war, worin seine Berufung bestand, nämlich im Schreiben von Büchern. Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch … nahm den Laptop und setzte mich auf die Terrasse … nahm den Laptop und setzte mich in die Küche … in die Bibliothek … wieder auf die Terrasse … Ich fand keinen Einstieg. Wenn ich das Wort »ich« tippte, wie unverfänglich der Satzzusammenhang auch war, sah ich eine Lüge vor mir; wenn ich den Namen »Carl Jacob Candoris« schrieb, war es wie Verrat und Tücke; als hätte ich ihm den Namen genommen und einem anderen untergeschoben. Mir dämmerte, daß ich zum erstenmal die Wahrheit schreiben wollte; nicht Fiktion, sondern Wahrheit – »Aderlaß des Herzens« –, und dafür gab es keine Worte – richtig war vielmehr: Ich hatte keine.
Ich erinnerte mich, als ich an Musicians geschrieben hatte, hatten sich bisweilen auftretende Schreibhemmungen dadurch überwinden lassen, daß ich recherchierte. Aber Achtung! Die Recherche ist ein Hund, das hatte ich bei dieser Gelegenheit gelernt. Für den Schriftsteller kann sie zu einem bissigen Hund werden. Der gibt sich zuerst spiellustig, tut, als ließe er sich abrichten, sorgt für Erfolgserlebnisse bei seinem Herrn, und zuletzt zerfetzt er seine Geschichte. Der Hausverstand sagt einem, man kann nicht genug wissen von dem Gegenstand, von dem man erzählen will. Falsch. Man kann zuviel wissen. Der zweite Irrtum besteht darin, daß man sich einredet, man habe gearbeitet, wenn man doch bloß nur Vorarbeit geleistet hat. Arbeit drückt sich in Seiten aus oder in Zeilen. Und in sonst gar nichts. Wieviel Zeilen hast du heute geschrieben? Wenn null, hilft es auch nicht, wenn du fünf Stunden in der Bibliothek oder am Internet gesessen hast. Gelernt habe ich: Es ist nicht gut, im voraus zu recherchieren. Such’ erst nach der Antwort, wenn sich die Frage stellt!
Nachdem ich mich eine Woche lang vergeblich an einer ersten Seite abgemüht hatte, beschloß ich, das oben formulierte Prinzip zu durchbrechen. Ich recherchierte den Hintergrund ausgerechnet zu jener Geschichte, die ich erst am Ende des Buches erzählen würde: die Geschichte von Hanns Alverdes.
Robert Lenobel gab mir den Tip, in Herwig Leopolds Deutsche Kriminalprozesse nachzuschlagen, einem Bestseller aus den frühen neunzehnsechziger Jahren, in dem der Autor – Volkskundler, Psychiater, Psychoanalytiker – spektakuläre Fälle der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aufführt und analysiert. (Die beiden Kriege und den Nationalsozialismus läßt er aus; begründet es damit, daß in diesen Jahren das Kriminale zur gesellschaftlichen Norm erhoben worden sei, wo es doch eigentlich einen Bruch derselben darstelle.) Ich borgte mir das Buch in der Nationalbibliothek aus, es ist ein faktenreicher Wälzer voll mit hilfreichen Querverweisen; tatsächlich sind darin Carls Großonkel fünfundvierzig (!) Seiten gewidmet. Leopold bezeichnet dessen Fall als den merkwürdigsten, der ihm begegnet sei. Und zwar deshalb, weil sich für die Taten des Hanns Alverdes nicht das kleinste Motiv rekonstruieren lasse. »Es scheint«, schreibt er, »als hätte diese Morde nicht er, sondern als hätten sie sich selbst begangen.« Als Motto über dem Kapitel zitiert er Seneca: Ut homo hominem non iratus, non timens, tantum spectaturus occidat – »Weil der Mensch den Menschen ohne Zorn und ohne Furcht, nur zur
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