Abendland
verrate.
Eines Tages jedenfalls sei das Fräulein Friederike mit ihrem Bruder Hanns, der gerade vierzehn war, im Kontor aufgetaucht, habe sich ohne Anmeldung in das Büro des Prinzipals begeben und diesen mit Charme und Nachdruck gebeten, den Jungen als Stift bei sich aufzunehmen, damit eines Tages ein Handelsmann aus ihm werde. So lernten sich mein Großvater und meine Großmutter kennen. Ein Jahr später heirateten sie. Sie wohnten zusammen mit Hanns in ihrem Elternhaus. Mein Großvater kaufte eine Hälfte des Hauses und legte das Geld auf ein Konto, das seinem Schwager bei Datum seiner Volljährigkeit zur Verfügung stehen würde.
Hanns war ihnen wie ein Sohn. Er liebte seine Schwester und verehrte seinen Schwager. Tatsächlich sah mein Großvater in ihm einen künftigen Partner. Hanns war der geborene Kaufmann. Egal, mit wem er sprach, jedem vermittelte er den Eindruck, hier werde eine gemeinsame Sache vertreten. Jeder schätzte ihn älter, als er war. Er verfügte über ein erstaunliches Talent für fremde Sprachen und Dialekte. Wenn der Schweizer Vertreter zu Besuch war, konnte er nach einem Tag dessen Sprachmelodie parodieren. Das typische ungarische Wienerisch meines Großvaters sprach er so, daß keiner glauben wollte, er sei noch nie in Österreich gewesen. Mit Achtzehn beherrschte er Englisch und Holländisch, konnte sich in Französisch unterhalten und nahm Privatunterricht für Spanisch. Dabei wirkte er nie angestrengt, alles ging ihm leicht von der Hand, im Gegenteil: er hatte etwas Müßiggängerisches an sich, etwas Träges, Müdes, Phlegmatisches, beinahe Somnambules.
Als meine Mutter zur Welt kam, war Hanns gerade sechzehn. Er ignorierte das Kind. Tat weiterhin so, als wäre er der einzige. Es muß ein Engelssturz für ihn gewesen sein. Bis zu seinem neunzehnten Jahr hielt er in der Familie aus, dann floh er auf und davon. Das hieß, er zog aus, arbeitete aber weiter im Kontor. Am Tag seiner Volljährigkeit räumte er das Geld von seinem Konto ab und verschwand.
Mein Großvater kehrte nach Wien zurück, zusammen mit seiner Familie, man beschloß, in Wien zu bleiben und ein Haus zu bauen – am Rudolfsplatz. An den Ausmaßen dieses Gebäudes kann man erkennen, daß mein Großvater überzeugt davon war, daß sein Geschäft über Generationen bestehen und weiter expandieren würde. Im Erdgeschoß sollte ein Lager sein, das Mezzanin war für Büroräume vorgesehen, darüber die bel étage , das waren rund um den Innenhof zwölf Räume in expensiver Ausstattung, wo die Herrschaft wohnte, darüber ein Stockwerk, das leer war, sozusagen zur Reserve, gedacht als späteres Domizil der Kinder und Kindeskinder, und im letzten Stock schließlich waren die Zimmer für das Personal. Mein Großvater kaufte zusätzlich ein Haus in der Wollzeile, dort eröffnete er sein Geschäft – ein Geschäft, vornehm und prächtig, wie es in der Stadt bis dahin keines gab.
Von Hanns hörten meine Großeltern nichts. Lange nichts. Erst im Jahr 1909 hörten sie von ihm. Das heißt, sie lasen in der Zeitung über ihn. Tatsächlich waren in jenem Herbst die Zeitungen voll von ihm. Mein Großvater hatte drei deutsche Zeitungen abonniert, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung , die Frankfurter Zeitung und die Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen , die spätere Vossische Zeitung . Außerdem las er jeden Tag im Kaffeehaus die großen Blätter der Monarchie. Und in allen, in allen wurde über den ›Fall Hanns Alverdes‹ berichtet.«
Carl ließ eine lange Pause, eine sehr lange Pause, bis er mit der Geschichte von Hanns Alverdes begann. Ich hörte sein Ausatmen – Geräusche der in sich selbst versunkenen Natur.
»Aber du schläfst doch nicht?« fragte er.
»Carl, nein!« rief ich aus.
3
Nach Carls Beerdigung, als wir uns am Bahnhof in Innsbruck voneinander verabschiedet hatten und David und Dagmar nach Frankfurt, meine Mutter nach Fouquières les Béthune zurückkehrten und ich nach Wien, nahm ich mir vor, unverzüglich mit der Arbeit an »seinem Buch« zu beginnen. Der Gedanke, alles, was verloren war – und es war ja alles verloren –, schreibend neu zu gewinnen; noch einmal, auch wenn es nur im Imaginären sein würde, zu erleben, was ich als schön in Erinnerung hatte – nicht unbedingt, weil es schön gewesen war, sondern weil es gewesen war –, dieser Gedanke versetzte mich in eine Hochstimmung, der ich mich nur allzugern überließ – sie fühlte sich so jugendlich an! –,
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