Abendland
Angestellte sich davor hütet, daneben noch anderes im Sinn zu haben, die Politik zum Beispiel, dann stehen sich die beiden auf Augenhöhe gegenüber – ja, fast wie Ministrant und Bischof vor dem großen Herrgott. Konnte es sein, daß diese Einstellung über den Krieg hinweg nicht zu halten gewesen war? Daß unserem Herrn Papuschek eine andere Weltsicht mehr eingeleuchtet hatte? Daß unser Herr Papuschek in den letzten Jahren vielleicht sogar jemand gewesen war? Und daß er nun wieder zurückkehren wollte in den süßen Schoß des Feinkosthandels und daran arbeitete, sich wenigstens die Formen wieder anzuerziehen, wo doch der Inhalt fehlte, jedenfalls noch fehlte? Es gab kein Produkt, das Unternehmer und Angestellter auf gleicher Augenhöhe hätten anbeten können, der große Herrgott war ja schon seit längerem tot, und nun war auch die Ware tot, wenigstens scheintot …
Der Vater des Mannes von Herrn Papuscheks Schwester, also dieser Herr Hofrat Dr. Mader vom k. u. k. Kriegsministerium, saß zwei Tische von uns entfernt, ein würdig unwirsch aussehender Mann mit weißem, um die Mundpartie herum gelbem Bart, der ihm bis auf die Brust herabwallte. Er hatte ebenfalls bereits gegessen.
Ich schilderte ihm den Fall. Er lachte nur. ›Undenkbar!‹ rief er aus.
Ich hatte den Brief bei mir, zweimal zusammengefaltet in meiner Rocktasche. Er legte diskret eine Serviette über die Schrift, betrachtete lange Briefkopf und Emblem.
›Oder vielleicht doch‹, sagte er schließlich und schmunzelte, nahm sich aber gleich zusammen und bemühte sich um einen flachen, objektiven Geschäftston, der gar nicht zu ihm paßte. ›Man weiß ja nicht, was für Geister in der Provinz Befehlsgewalt innehatten. Kann durchaus sein, daß irgendein Soldat Sohn einer Druckerei war und sich bei seinen Vorgesetzten einhauen wollte. Hat er dem Kommandanten vielleicht eine Idee ins Ohr gesetzt. Nach dem Motto: Wir sind ein besonderer Haufen, brauchen also ein eigenes Briefpapier.‹
›Und wenn das nicht der Fall ist‹, fragte ich. ›Was kann die Erklärung für diesen Briefkopf sein?‹
›Daß der Verfasser das Briefpapier allein für sich und seine Zwecke hat anfertigen lassen‹, sagte er, und er wurde sogar zornig. ›Was soll das hier sein? Zwei Lilien? Eine Doppellilie? Eine Verhöhnung vielleicht? Daß der Fälscher den Doppeladler zu einer Doppellilie umgedeutet hat?‹
›Wie? Fälscher?‹ fragte ich und mischte brav eine Prise Empörung in das Ä.
›Allerdings!‹ triumphierte er. ›Das hier, mein Herr, kommt dem Tatbestand der Dokumentenfälschung gleich!‹ – Sein Triumph war nicht die Begleitmusik zu seiner Expertise. Er galt mir. Als hätte er soeben nicht meinen Vater eines Vergehens überführt, sondern mich. Aber eigentlich war es ja nicht Triumph, der seine Stimme hob, sondern ein aufgestautes Achtung-aufgepaßt!, dem offenkundig in den letzten Jahren niemand Gehör geschenkt hatte. Und nun legte dieser Zeitenfremdling ausgerechnet mir seine Abrechnung vor, als hätte er auf so eine Gelegenheit gewartet, seit er zum letztenmal beim Barbier gewesen war, und als wäre ausgerechnet ich entweder der Buchhalter des Antichristen, der die große Umwertung der Moral in den vergangenen sechzig Jahren zu verantworten hatte, oder – wer weiß! – der Scout des Erlösers, der gekommen war, um die Lage für eine bessere Zukunft zu sondieren. ›Jawohl, Fälschung und Betrug‹, rief er aus – und ich kam in den Genuß der wohl seltsamsten Rede, die ich je gehört habe.
›Fälschung und Betrug haben sich in jedes Wort hineingeschlichen, und jetzt ist sogar die Wahrheit verlogen, hier stehen wir! Sie kommen aus Amerika, habe ich gehört. Kommen Sie ruhig aus Amerika, meinetwegen kommen Sie halt aus Amerika! Dem Land der großen Präsidenten – Woodrow Wilson, Franklin Delano Roosevelt … Wir haben niemand Vergleichbaren. Und das schon lange nicht mehr. Ganz Europa hat niemand Vergleichbaren vorzuweisen, das möchte ich betonen. Erst haben wir auf euch heruntergeschaut, jetzt schaut ihr auf uns herunter. Als die Kronen von den Köpfen fielen, da waren die Köpfe naturgemäß nichts mehr wert. Gott hat die Entscheidung den Menschen überlassen, wem sie dienen wollen. Da stimmen Sie mir als Amerikaner sicher zu. Ich sage zur Demokratie: Meinetwegen! Wissen Sie, ich glaube, Gott hat das Herz eines Kindes. Erst hat ihn ein Philosoph für tot erklärt, dann hat ein englischer Naturgeschichtelehrer seine Schöpferkraft
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