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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Chicago, von dem man so viel Schlechtes hört, und ich meine, das wäre wohl auch Ihnen lieber, habe ich recht? Fürst Bismarck war kein Freund von Österreich, das wird man auch in amerikanischen Schulen lehren, wenn es so etwas wie amerikanische Schulen überhaupt gibt, er war nicht einmal ein Freund des Deutschen Reiches, er war kein Freund Englands und kein Freund Frankreichs, und den Russen hat er wie jeder vernünftige Mensch mißtraut. Er hat seine Frau geliebt, das kann man nachlesen. Aber Freunde hatte er keine. Er wollte, daß alles so weitergeht, wie er es begonnen hatte, und nur, wenn es unbedingt notwendig wäre, ein bißchen anders. Und das ist auch das, was ich immer gewollt habe. Ich bitte Sie um eine ehrliche Antwort, mein Herr: Wenn eine Sache so klar ist wie diese, daß die Geschichte anders und zum weitaus Besseren sich entwickelt haben würde, wenn der deutsche Kaiser den deutschen Kanzler nicht entlassen hätte, sollte Gottvater in so einem Falle nicht verfügen – nur in so eindeutigen Konstellationen wie dieser, verstehen Sie mich richtig, nur in solchen historischen Knoten, wo man die Abzweigung, hier zum Guten, hier zum Schlechten, genauestens identifizieren und datieren kann – 20. März 1890 –, daß man noch einmal zurückdarf, jedenfalls dann, wenn die Folgen so sind wie in dem vorliegenden Fall. Ihr Amerikaner habt das Auge Gottes auf eure Geldscheine drucken lassen, ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber vielleicht hat es Gottvater ja in eure Hände gelegt, die Vorbereitungen zu treffen, daß wir tatsächlich noch einmal zurückdürfen. Es gibt Leute bei uns, die glauben das. Glauben Sie das? Wissen Sie womöglich Näheres? Unter diesem Gesichtspunkt hätte die Einmischung Ihres Präsidenten Wilson damals seine Berechtigung gehabt und auch, daß Ihr Präsident Truman diese Bombe auf Japan geworfen hat, und auch, daß Ihr General Eisenhower seinen Soldaten drei Tage Plünderungsfreiheit gegeben hat. Und was diesen Brief hier betrifft, dessen Kopf Sie mir zur Beurteilung vorlegen, er würde ein zweites Mal nicht geschrieben …‹
    Und ich, dachte ich, ich würde ein zweites Mal nicht geboren. Ich demütigte den alten Mann, indem ich eine Handvoll Bilder vom Auge Gottes vor ihn auf den Tisch legte. Er beugte sich wie im Reflex vor und deckte mit seinem Bart die Dollars ab, damit sie niemand sehe. Ich verließ das Café Mozart, das ehedem einer unserer besten Kunden gewesen war, und ich war glücklich, wie ein Mann, der aus dem Gefängnis entlassen wurde. Und ich ließ meiner Einbildungskraft freien Lauf. Phantasierte aus meinem Vater einen Bel Ami, einen Dorian Gray, einen Chlestakow, einen Freibeuter, einen Briganten, einen Don Juan womöglich oder einen Münchhausen. Und immer: einen liebenden Ehemann, einen, der würdig war, von meiner Mutter geliebt zu werden. Nur eines spielte ich mir nicht vor: einen Opportunisten, der, noch ehe der Hahn dreimal kräht, alles verrät … – Dieses Phantasieren trug mich über zwei Tage hinweg; schließlich verwahrte ich den Brief in meiner Dokumentenmappe, und dort blieb er, bis ich eines Tages auf die Idee kam, ihn Margarida zu zeigen.«
7
    Drei Stunden lang hat Carl erzählt, und er ist dabei nicht müde geworden. Ich wußte noch nicht, daß er Schmerzmittel in hohen Dosen bekam, und ich wußte natürlich auch nicht, daß er sich am Vortag mit Frau Mungenast und seinem Arzt beraten hatte, wie man ihn wenigstens für den ersten Abend fit halten könnte.
    Nun war er am Ende des Bogens angelangt, die Erleichterung ist seiner Stimme anzuhören. Ich könne das Gerät abschalten, sagt er. Aber ich ließ es weiterlaufen. Solange er so gut beieinander ist, dachte ich, soll alles draufkommen, was er von sich gibt. Es folgt ein Frage-Antwort-Spiel, das meiner Stimme bald auf die Nerven zu gehen scheint, das Carls Stimme jedoch hörbares Vergnügen bereitet; und nachdem der ganze Abend, wahrscheinlich wegen des Aufnahmegeräts, die Form eines Star-Interviews gehabt hatte – zwei Prozent Frage, achtundneunzig Prozent Antwort –, waren diese letzten Fragen eher im Stil eines Gesellschaftsjournalisten als des künftigen Biographen gehalten.
    Ich: »Wieviel Prozente gibst du den Genen?«
    Er: »Die Gene dienen der Beschwichtigung derer, die gern davon reden.«
    »Du meinst, die Gene sind da, um etwas zu entschuldigen?«
    »Nein, dazu sind sie gewiß nicht da. Aber sie werden dazu verwendet.«
    »Was man ist, hat man selber aus sich

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