Abendland
angezweifelt, da wird er sich gedacht haben: Macht doch euren Dreck allein! Und hat die Hand von den Dynastien gezogen. Manchem gekrönten Kopf hat allerdings die Krone auch vorher schon nicht helfen können. Ich hatte die Ehre, im Mai 1910 zu der Delegation zu gehören, die unseren Thronfolger nach London zur Beerdigung von Eduard VII. begleitete. Da habe ich die Ursache allen Übels mit meinen eigenen Augen gesehen: Wilhelm II., den deutschen Kaiser. Ihm hat nicht Gott die Krone aufgesetzt, sondern eher der andere, ich kann es mir nicht anders erklären. In der ersten Reihe ritt er, auf einem Grauschimmel, in der scharlachroten Uniform eines britischen Feldmarschalls, den Schnurrbart aufgezwirbelt zu zwei Miniaturbajonetten. Jeder wußte, wie sehr er seinen verstorbenen Onkel gehaßt hatte. Dennoch: Zur Rechten des neuen Königs ritt er nun. Georg V. hatte es ausdrücklich angeordnet. Zur Linken soll reiten der Herzog von Connaught, der Bruder des Toten, zur Rechten soll reiten der deutsche Kaiser. Siebzig Nationen waren vertreten! Allein vierzig kaiserliche oder königliche Hoheiten! Hinter Wilhelm II. ritten die Könige Friedrich von Dänemark und Georg von Griechenland, die Schwäger des Toten, weiter die Könige Haakon von Norwegen, Alfons von Spanien, Manuel von Portugal und der farbenprächtige, mit einem seidenen Turban geschmückte Ferdinand von Bulgarien. Anwesend waren auch der Erbe des türkischen Sultans, Prinz Jussuf, und der Bruder des japanischen Kaisers, Prinz Fushimi, und der Bruder des russischen Zaren, Großfürst Michael. Unser Franz Ferdinand mit wehendem grünem Federbusch ritt in der fünften Reihe, neben dem jungen König Albert von Belgien. Das hat uns ein klein wenig verstimmt, zählte unsere Monarchie doch zu den fünf großen europäischen Mächten, und nachdem es das Protokoll vorsah, daß die Herrschaften in Dreierreihe ritten, wäre ein Platz in der dritten oder wenigstens vierten Reihe angemessen gewesen. Unter den zaghaften Schlägen des Big Ben ritten die Herrscher der Welt durch das Schloßtor, scharlachfarben, purpurn, preußisch-blau, golden, mit wippenden Helmbüschen. Etwas Schöneres habe ich nicht erlebt. Übrigens auch Ihr Amerika war vertreten. Der ehemalige Präsident Theodore Roosevelt war als Sondergesandter der Vereinigten Staaten anwesend. Zum Glück gab es da noch zwei andere Herren in Zivil, den Schweizer Gaston-Charlin und den französischen Außenminister Pichon, sonst wäre sich der Vertreter Ihres Landes wohl deplaziert vorgekommen. Nie vorher in der Weltgeschichte war so viel Auserwähltheit auf einem Fleck Erde versammelt. Und ich sage Ihnen, ich habe gespürt – ich, ein kleiner Ministerialbeamter –, daß hier mehr vor sich geht als die Beerdigung des Königs von England. Gott wollte der Welt noch einmal zeigen … aber was wollte er der Welt zeigen? Ich verstehe es nicht! Verstehen Sie, was uns passiert ist? Wie das passieren konnte. Europa ist tot. Wir sind eine Horde geworden. Ich habe von dem deutschen Kaiser Wilhelm II. nie etwas gehalten, und Sie können mir frei heraus glauben – ich weiß es nämlich –, auch unser Kaiser Franz Joseph hat nichts von ihm gehalten, weil von diesem Herrn einfach nichts zu halten war – aber: Daß Ihr Präsident Wilson sich nach dem Ende des Krieges an seinen Schreibtisch setzt und einfach so mit seiner amerikanischen Füllfeder hinschreibt, er fordere, daß der deutsche Kaiser abdankt … Sie kommen also aus Amerika, so. Und Sie treffen die Wiener – und in Berlin ist es nicht anders, Sie können mir das frei heraus glauben –, und Sie sehen diese Menschen, und Sie sehen in ihren Gesichtern, daß sie nicht wissen, was ihnen passiert ist. Auf einmal ist alles so geworden, wie es keiner haben wollte. Millionen Menschen keilen sich ineinander, jeder will etwas, die meisten wollen, daß gar nichts passiert, und am Ende kommt etwas heraus, das nicht einer von ihnen wollte. Ist das nicht nachgerade die unwahrscheinlichste Lösung? Wissen Sie, was ich während der ganzen Zeit, als der Hitler an der Macht war, getan habe? Ich habe gelesen. Als eine Art der Sühne. Wenn alle um mich herum den Arm zum Gruß erhoben hatten, saß ich darunter wie unter den Dachsparren des Teufels und habe die Frage studiert, was gewesen wäre, wenn Wilhelm II. den Reichskanzler Bismarck nicht entlassen hätte. Mein Herr, dann säßen Sie nicht hier, sondern wären immer noch in Ihrem Amerika, in Ihrem Texas oder in Ihrem Neu York oder diesem
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