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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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und gehörte wieder zu jemand anderem. Auch den kannte ich nicht. Die Haut um die Augen herum war dünn, neben der Nase zu den Bäckchen hin babyhaft blühend, und die Augen erzählten eine mir nicht weniger unangenehme Geschichte, daß nämlich die Kraft, die Männlichkeit, das rigorose Selbstbewußtsein, die enorme Intelligenz, die sanfte intellektuelle Hartnäckigkeit, aber auch die intellektuelle Großzügigkeit, die manchmal wieder nur Gleichgültigkeit sein mochte, kurz: daß das Charisma, das diesem Mann sein Leben lang eignete, tatsächlich auf einer falschen Beurteilung durch seine Umgebung beruht hatte … – So viel Kraft brauchte dieses Gesicht inzwischen, um einen bestimmten Ausdruck zu formen; so viel Kraft noch einmal, um diesen Ausdruck festzuhalten, wenigstens für eine halbe Minute, damit er sich nicht gleich wieder auflöste und in ein Nichts absackte, das dann allein meinem Respekt zur Interpretation überlassen war.
    Meine nasse Hose gegen seinen Rollstuhl. Ich legte den Mantel ab. »Es ist so eklatant, daß ich nicht einmal versuchen muß, es zu verbergen, stimmt’s?«
    »Vor mir brauchst du dich nicht zu genieren«, wiederholte er. Wenn er sprach, war alle Greisenhaftigkeit verflogen.
    Der Taxifahrer sagte: »Bei meinem Schwiegervater hat es drei Jahre gedauert.«
    »Aber ich kenne einen«, antwortete Carl und drohte mit seinem Krähenfinger, als habe er den Taxifahrer beim Schwindeln ertappt, »bei dem hat es nur zwei Wochen gedauert.« Der Mann konnte den Spott nicht heraushören, es mußte einer schon geschult sein in der Harmonik von Carls feinen Untertönen.
    »An diesem Punkt erwischt es uns Männer alle früher oder später«, sagte der Taxifahrer.
    »Wie alt sind Sie denn?« fragte Carl.
    »Zweiunddreißig.«
    »In diesem Alter kommen die Gefahren freilich aus einer anderen Richtung.«
    »So ist es!« rief der Taxifahrer fröhlich und tänzelte behende und gesund durch den Rosengarten zu seinem Wagen hinunter und hatte doch nicht die geringste Ahnung, worauf dieses weiße Gespenst in dem moosgrünen Hausmantel anspielte. Ich hatte ebenfalls keine Ahnung. Aber ich mußte es ja auch nicht mehr wissen.
    Eine Frau kam aus dem Haus und gab mir die Hand wie einem, der lange erwartet worden war.
    »Frau Mungenast«, stellte mich Carl vor, »das ist Sebastian.«
    Sie war etwa in meinem Alter, hatte ihr Haar aufgesteckt, dunkles Mahagoni, trug ein blaues Kleid, das wahrscheinlich von ihrem Pflegeverein vorgeschrieben war. Sie band es mit einem Gürtel eng um den Leib. Der Gürtel paßte nicht, er war aus braunem Krokoleder, ein Männergürtel. Sie war klein, stand sehr aufrecht vor mir. Mir war, als suchte sie etwas in meinen Augen. Vielleicht vermied sie auch nur, an mir hinabzusehen. Ich hatte das Gefühl, sie mochte mich gleich, und ich mochte sie auch gleich. Sie hatte zwei Decken unter einem Arm.
    »Setz dich neben mich in die Sonne«, sagte Carl. »Ich habe zu Frau Mungenast gesagt, daß du Kuchen magst. Sie hat welchen aus der Stadt mitgebracht.«
    »Streusel-Kirsch«, sagte sie.
    Als sie zurück ins Haus gegangen war, um den Tee zu holen, sagte er: »Sie hat ein eigenes Zimmer oben. Aber sie benutzt es selten. Manchmal bleibt sie über Nacht. Wenn ich ihr am Abend nicht gefalle. An den Wochenenden kommt Ersatz. Immer jemand anderer. Und am Mittag kommt eine Frau aus dem Dorf, die für mich kocht.«
    Er schaltete das Handy ab und ließ es in die Tasche seines Hausmantels gleiten. »Jetzt bist du ja hier.« – Was hätte ich denken sollen? Er war sich nicht sicher gewesen, ob ich wirklich komme, hätte ja sein können, daß sie mich doch noch im Krankenhaus behalten, hätte ja sein können, daß ich im letzten Augenblick anrufe, weil ich es mir anders überlegt hatte. Also: daß er, der Telefonierer, am Ende seines Lebens nur noch mit mir telefonierte, daß sein Handy allein auf meinen Anruf gewartet hatte, daß es nur für mich dagewesen war und nun geschlossen werden konnte. – Das war falsch gedacht gewesen.
    »Wenn Margarida noch am Leben wäre«, sagte er mit feierlicher Stimme, »dann wär’s wie früher. Aber Frau Mungenast wird sich bemühen, daß dein Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich wird.«
4
    Nach einer Woche traute ich mir zum erstenmal zu, Carl im Rollstuhl bis hinüber ins Dorf zu schieben. Ich polsterte mich aus wie ein Landsknecht und stopfte meine Manteltaschen mit Einlagen zum Wechseln voll. Carl steckte auf Anweisung von Frau Mungenast sein Handy ein,

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