Abendland
anders gemessen werden als an der Liebe, die gegeben und genommen wird? Das darf man doch wenigstens denken! Außerdem habe ich es tatsächlich einmal ausgesprochen. In Lissabon. Die Neunzigjährigen neigen vielleicht zur Sentimentalität, die Zehnjährigen ganz sicher zur Wahrheit. Ich hatte zu Margarida gesagt: »Ich möchte, daß du meine Mutter bist.« In ebendieser Klarheit. Sie hatte mir eine Ohrfeige gegeben, die viel zu fest ausfiel, als daß ich hätte glauben können, sie sei als Züchtigung gemeint; die halbe Kraft wenigstens galt ihr selbst, um sich für das Glück zu bestrafen, das sie empfand, als ich ausgesprochen hatte, was sie, die in der Wolle gefärbte lusitanische Katholikin, sich nicht einmal zu denken getraute.
5
Als sich Carl und Margarida kennenlernten, wurde sie gerade zwanzig und war verlobt mit dem angehenden Ingenieur Daniel Guerreiro Jacinto. Sie studierte in ihrer Heimatstadt Coimbra Wirtschaftswissenschaften und wohnte zu Hause bei ihrem Vater. Sie war das jüngste von fünf Kindern; ihre beiden Brüder arbeiteten bei verschiedenen Zeitungen ihres Vaters in Lissabon und Aveiro; eine Schwester lebte nicht weit von Coimbra am Atlantik am Rand der Serra da Boa Viagem, sie war die Frau eines Beamten und hatte drei Kinder; die andere Schwester, Adelina, betrieb zusammen mit ihrem Mann in Lissabon eine florierende Handschuhmanufaktur und hatte ebenfalls drei Kinder, zwei Mädchen, Zwillinge, und einen Buben. Die Geschwister waren deutlich älter als Margarida, sie kamen selten nach Coimbra, und wenn, waren sie wie Fremde. »Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr habe ich mit allen vieren zusammen nicht soviel gesprochen wie wir beide heute an diesem Nachmittag«, hatte sie zu mir gesagt, als sie mir ihr Leben erzählte – nämlich mit dem Zweck, mich vor einer Verbindung zu warnen, deren gute Seite hauptsächlich aus der Hoffnung bestand, daß es eines Tages anders und besser werden würde.
Margarida war der Liebling ihres Vaters gewesen. Der war schon in den Fünfzigern, als sie zur Welt kam. »Er hat mir ein Dutzend Vornamen gegeben«, erzählte sie, »gut die Hälfte davon habe ich vergessen, den Rest werde ich dir, auch wenn du mir drohst, mich in den Fluß zu stoßen, nicht nennen, man könnte meinen, ich sei ein Stall voll mit Kühen.« – Das war übrigens typisch für sie: in eine Schlecht- und Lächerlichmacherei zu verfallen, wenn sie über sich selbst sprach. Mich hat sie damit immer zum Lachen gebracht. Carl hat es, glaube ich, nicht so gern gehabt. Wenn sie sich wieder einmal einen »weiblichen Hornochsen« oder einen »zerknitterten Papiersack« oder eine »vergeßliche Schreckenschraube« oder eine »völlig neurotische Kitschnudel« oder einen »alten Aschenbecher« nannte und dabei obendrein die Wörter, absichtlich oder unabsichtlich, falsch betonte, schoß Ungeduld in seinen Blick, und es konnte vorkommen, daß seine Hand auf den Tisch schlug, so heftig, daß ich zweifelte, ob es nur Ungeduld war, was ich in seinen Augen sah. – Noch bevor Margarida in die Schule kam, starb ihre Mutter. Die Eltern hatten sich bis dahin recht wenig um ihre Tochter gekümmert. Der Vater verhätschelte sie zwar, hatte aber immer zuviel zu tun; die Mutter war überschäumend und zugleich nachlässig, einmal freizügig bis zur Verantwortungslosigkeit, dann wieder penibel, engherzig und aufrechnerisch, im einen Augenblick rief sie Margarida zum Wunderkind aus, um sie gleich darauf mit ein paar Worten auf halbe Größe zusammenzuhauen. Margarida wich ihrer Mutter aus, und als diese starb – Margarida: »Ich weiß bis heute nicht, woran. Mein Vater hat immer nur gesagt: Sie ist abgeholt worden« –, weinte sie nicht. Herr Durao aber ging in sich, begab sich mit seiner Tochter an der Hand auf einen kleinen Sonntagspilgermarsch von der Lissabonner Innenstadt nach Belém. Dort fiel er vor dem Altar im Mosteiro dos Jerónimos auf die Knie und erklärte laut, so daß es in der Kirche widerhallte, er werde sich von nun an mit einziger und größter Sorgfalt seinem Kind widmen.
»Und diesen Vorsatz«, erzählte Margarida, »hielt er! Mehr als das! Er hat mich so erzogen, wie er dachte, daß ihn seine Eltern erzogen hatten, mit der Folge, daß aus ihm geworden war, was er war. Du darfst diese Arbeit nicht unterschätzen! Er mußte dabei über eine Parade von Schatten springen. Wieviel einfacher wäre es gewesen, wenn ich ein Knabe gewesen wäre! In Portugal in den zwanziger Jahren war es fast
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