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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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fielen aus den oberen Haken ihrer Hanwags und schlappten bei jedem Schritt nach. Sie kümmerte sich nicht darum. Ich konnte Carl ansehen, daß es ihn störte; aber er sagte nichts. Wenn die beiden mit mir sprachen, war kein Unterschied in Thema und Ton zu den Gesprächen, die sie miteinander führten; Carl erzählte von den Vögeln, machte uns auf ihren Gesang aufmerksam, zeigte mir ihre Nester, ließ mich am Schattenriß am Himmel bestimmen, was für ein Greifvogel über uns kreiste; oder wir redeten über den Algerienkrieg oder über Adolf Eichmann, den der israelische Geheimdienst aus Argentinien entführt hatte; oder Carl demonstrierte mir anhand von hundertzehn Kieseln, die er auf den Badepritschen beim See zu einem Rechteck aufreihte, wie der mathematische Großmeister Carl Friedrich Gauß, als er geradeso alt war wie ich, eine Formel entwickelt habe, mit deren Hilfe man in weniger als einer halben Minute alle Zahlen von 1 bis 100 zusammenzählen kann; oder er erklärte mir, was eine Primzahl ist, und während wir auf einer Bank neben dem Schilf saßen und auf den See blickten – das Café gab es damals noch nicht –, breitete er vor mir den Beweis des Euklid aus, daß die Anzahl der Primzahlen unendlich sei, und weihte mich in die Goldbach-Vermutung ein (was für ein wunderbares rätselhaftes Wort wieder!), wonach jede gerade Zahl größer als 2 sich als Summe zweier und jede ungerade Zahl größer als 5 als Summe dreier Primzahlen darstellen lasse, und ich durfte mir einbilden, ich hätte alles verstanden. – Von der Gewohnheit der sonntäglichen Spaziergänge rückten wir, wie gesagt, auch in Lissabon nicht ab, dort wanderten wir am Tejo entlang nach Belém, aßen in einem der Cafés den berühmten portugiesischen Kuchen, lachten über Chruschtschow, weil er in der UNO mit dem Schuh auf den Tisch getrommelt hatte, und fuhren mit der Straßenbahn zurück zur Praça do Comércio, wo wir uns noch eine halbe Stunde auf eine Bank setzten und schwiegen und den Schiffen zusahen, bis der Abend die Häuser und Schiffe zu Schattenrissen verdunkelte. Innsbruck war viel schöner gewesen, unvergleichlich viel schöner!
    »Weißt du«, verriet ich Margarida auf dem erwähnten langen Spaziergang am Inn entlang, »daß ich euch beide als mein ideales Elternpaar gesehen habe?«
    »Um der Heiligen Madonna willen!« rief sie aus und lachte breit und laut. »Dafür bitte ich dich noch nachträglich innig um Verzeihung!«
    »Aber warum denn! Ihr habt mich ruhig werden lassen. Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutet hat?«
    »Ja, natürlich kann ich mir das vorstellen.«
    »Das heißt ja nicht, daß ich meinen Vater und meine Mutter nicht geliebt hätte. Aber bei denen war es nicht ruhig. Oder es war zu ruhig. Stille war am gefährlichsten. Bei Carl und dir, das war, als ob mein Kopf kein Gewicht hätte.«
    »Das, mein lieber Kleiner«, sagte sie mit bedeutungsvoller Stimme, meinte es aber ernst, »das liegt an unserer Synchronizität.«
    Auf den Spaziergängen durch Lans kamen wir auch an der gelben Villa vorbei, und jedesmal sagte Margarida, wie herrlich es sein müsse, in diesem Haus zu wohnen, und Carl antwortete, ja, wenn es nur unten in der Stadt stünde. Anfang der achtziger Jahre haben sie die Villa gekauft. Einen Vorteil habe es, hier oben zu wohnen, witzelte Carl, er müsse nun nicht mehr jeden Tag die Felsen der Nordkette vor sich sehen, dieses Brett vor dem Kopf dieser Stadt. Dafür sah er den Patscherkofel, sanft und rund wie die Brust einer liegenden Frau. Ich war immer der Meinung gewesen, Carl passe nicht in dieses Haus. Tatsächlich hatte er sich lange dagegen gesträubt, die Wohnung unten in der Anichstraße aufzugeben. Nach Margaridas Tod – sie hatte nur ein Jahr in ihrem Traumhaus gelebt – überlegte er sich, es zu verkaufen, überhaupt aus Innsbruck wegzuziehen, zurück nach Wien, zum Rudolfsplatz. Aber er ist geblieben. Weil Margarida auf dem Dorffriedhof begraben liegt.
    Das Haus steht an einem Hang, der über Tannenspitzen und Buchenkronen in ein Felsstück übergeht. Es war von den ehemaligen Besitzern in Habsburgergelb gestrichen worden; alles, was vom Himmel kommt, hat es im Laufe der Jahre entschieden interessanter umgefärbt; außen hatten Carl und Margarida nie etwas verändert. Mit seiner Front weist das Haus gegen den Berg und wirkt mehr stur als herrschaftlich, die beiden Ziertürmchen an den Kanten scheinen wie Messer und Gabel in den Händen eines trotzigen Kindes. Ich habe

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