Abendland
gab ihnen die Schlüssel zu seinem Mercedes. »Mit dem suchen sie erst einmal eine Stunde lang nach einem Parkplatz«, sagte er.
Margaridas Grab liegt an der Mauer des Friedhofs bei der Dorfkirche von Lans. Es ist mit Efeu überwachsen, am Kopfende steht ein Obelisk aus rosa Marmor, die Inschrift ist eingekerbt und schwarz nachgezogen. Ich sah ins Tal, über die Dächer der Bauernhäuser unterhalb der Kirche, über die Schneedecke auf den Feldern, aus denen in gepunkteten Linien die Stoppeln der Maisstauden schauten, bis hinüber zur Villa. Carl bat mich, ihm aus dem Rollstuhl zu helfen. Ich stellte die Bremse fest, faßte ihn bei der Schulter. Er sog die Luft ein, das klang nach Erstaunen, aber nach keinem guten Erstaunen. Ich fragte, ob er Schmerzen habe. Er antwortete nicht, weil er die Luft anhielt. Sein Körper wog wenig in meinen Armen. Langsam streckte er sich durch, stemmte den Rücken gerade, nahm die militärische Haltung ein, die mir immer imponiert, die mich auch eingeschüchtert hatte. Eine kleine Zeit stand er frei, die Sonnenbrille in der Hand, richtete mit den Unterarmen sein Gleichgewicht aus. Ich würde ihn nie wieder gehen sehen – den langsamen Gang, der so viel zu der Gelassenheit seiner Erscheinung beitrug; er wußte, wie man sitzt, steht und geht, wie man den Arm hebt, um auf etwas zu zeigen. Ein Windhauch verwirbelte unsere Haare. »Der Föhn kommt«, sagte er. Ich faßte ihn unter den Achseln, und er ließ sich zurück in den Rollstuhl gleiten. Er zupfte einen Handschuh von den Fingern und hielt mir die nackte Hand entgegen. Sie war warm und trocken und kühlte schnell ab, wie ein lebloser Gegenstand. Er lächelte zu mir empor und setzte die schwarze Brille wieder auf. Um das Grab herum lag Schnee. Die Mauer gab die meiste Zeit des Tages Schatten. Auf den Efeublättern hatte sich der Schnee nicht gehalten, sie breiteten sich gleichmäßig über dem schmalen Hügel aus, kräftig grün, optimistisch und diesseitig, und wuchsen an den Seiten des Grabsteins empor.
Margarida Candoris-Durao
geb. am 15.7.1916 in Coimbra (Portugal)
gest. am 30.1.1982 in Lans
Carl drückte meine Hand. »Du hast sie gern gehabt.«
»Ja, das habe ich.«
»Denkst du noch manchmal daran, als du bei uns warst?«
»Sehr oft denke ich daran.«
»Und denkst du gern daran?«
»Oh, das weißt du.«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie leid es uns getan hat, als wir dich wieder hergeben mußten. Ich will dir etwas sagen, Sebastian. Trotz allem, was du weißt, trotz allem, was ich dir vielleicht noch erzählen werde: Wir beide, Margarida und ich, wir waren das ideale Paar. Wir haben oft darüber gesprochen, und immer waren wir uns einig gewesen: Wir sind das ideale Paar. Sie hat ja einiges übrig gehabt für Illustriertenklatsch. Aber in diesem Sinne meine ich es nicht. Nimm jedes Menschenleben als ein Drama! Aristoteles hatte ja seine Überlegungen zur Tragödie von irgendwoher bezogen. Eine solche Theorie saugt einer ja nicht aus der attischen Luft. Wann ist eine Geschichte eine gute Geschichte? Wenn sie gebaut ist wie ein Leben. Von daher hat es der Aristoteles. Und jetzt sage ich dir, was ein ideales Paar ist: nämlich wenn sich die beiden genau in der Peripetie ihres Lebens treffen. Ob es mit ihnen gutgeht oder nicht gutgeht, das ist eine andere Frage. In einem dramaturgischen Sinn sind sie ein ideales Paar. Und in diesem Sinn waren Margarida und ich ein ideales Paar. Und du, Sebastian, du warst unser Sohn.«
»Auch in einem dramaturgischen Sinn?«
»Spotte nicht über mich!«
»Ich war aber nicht euer Sohn.«
»Du wärst es gern gewesen. Damals in Innsbruck und ganz bestimmt in Lissabon. Für uns warst du unser Sohn. Für Margarida bis zu ihrem Tod. Ich bemerke an mir in letzter Zeit eine höchst merkwürdige Lust, alles mögliche abrunden zu wollen. Es heißt, je älter man wird, desto nüchterner wird man auch. Das gilt nur bis Neunzig, glaub mir. Jenseits der Neunzig neigt der Mensch, vor allem der Mann, auf schreckliche Weise zur Sentimentalität … Das ist die Krankheit der sehr alten Menschen … Sie ist nur wenig erforscht, diese Krankheit, weil nur wenige so alt werden. Na klar. Aber an der Sentimentalität sterben wir Überneunzigjährigen schlußendlich, glaub mir. Wenn dagegen ein Pulver erfunden wird, leben wir ewig. Diese Krankheit ist Margarida erspart geblieben. Ihre Liebe war nicht sentimental. Das war sie nie. Davon kann ich ein Lied singen.«
Und woran soll das Mütterliche
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