Abendland
interessierten mich die Geschichten über Duke Ellington, wie er mit seinem famosen Orchester in einem Sonderzug kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika gefahren war – Chicago, New York, Philadelphia, Baltimore, Cincinnati, St. Louis –, immer ein Notizbuch und einen Stift in Reichweite, damit er sich Noten aufschreiben konnte, und daß er, wenn kein Notizbuch griffbereit war, die Melodien auf die Manschetten kritzelte, die heute von Bewunderern für teures Geld ersteigert werden. Das mochte ich am liebsten: wenn Carl Geschichten über Musiker und Musikanten erzählte; weil mir nämlich mein Vater ähnliche Geschichten erzählt hatte, Geschichten aus der großen Zeit der Schrammelmusik, als alle so lustige Namen hatten, die Sänger, die Jodler, die Dudler, die Pfeifer – Bratfisch, Hungerl, Xandl, Fladl, Prilisauer, Adolfi, Brady –, Geschichten vor allem natürlich über Anton Strohmayer, der ein Held war, und zwar kein Geringerer als der König Minos von Kreta, der aber im Gegensatz zu diesem als alter Mann von seinem Heldenthron herabgestiegen war, um meinem Vater, dem damals Vierzehnjährigen, die Hand auf die Kopfwolle zu legen und ihm zu sagen, daß aus ihm einmal etwas Großes werden würde. Und so erzählte mir Carl an den Abenden, wenn ich Heimweh hatte, Geschichten von Musikern; und nicht nur von den Abenteuern des Duke berichtete er, auch von anderen Jazzern – von der unglaublichen Billie Holiday, von Lester Young, Bud Powell, Count Basie, Thelonius Monk, Coleman Hawkins, Charlie Parker – und, was mir am besten gefiel, von den alten Bluessängern aus dem Mississippi-Land, die auch so lustige Namen hatten – Big Joe Williams, Big Bill Broonzy, Blind Lemon Jefferson, Blind Boy Fuller, Blind Simmie Dooley und Kansas City Kitty, die es eigentlich gar nicht gegeben hatte und deren Abenteuer sich in meinem Kopf mit den Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn verbanden. Aber Carl erzählte auch von Enrico Caruso und Beethoven und Mozart und Schubert und Paganini oder von Alfred Band, der das Bandoneon, und von Adolphe Sax, der das Saxophon erfunden hatte; und von den unendlich traurigen Fadosängerinnen aus Lissabon und von jenem geheimnisvollen Georgier Grigol Beritaschwili, der mit einem Instrument, das Tschonguri hieß, den Diktator Josef Stalin in die Knie gezwungen habe. Nicht im Kindermärchenton erzählte er, sondern mit der Sachlichkeit einer Reportage, aber mit einer Stimme, so sanft und rein, daß sie auf mich wie ein Rauschmittel wirkte. Er lenkte mich von meinem Heimweh ab. – Auf einem unserer Spaziergänge kurz vor seinem Tod versicherte er mir, daß er sich auf diese Erzählungen gewissenhafter vorbereitet habe als auf seine Vorlesungen, daß er vom Institut aus lange Telefongespräche mit Experten in Wien und New York und London geführt habe.
Die Tage in Innsbruck reihten sich aneinander, aber es wurde keine Vergangenheit daraus, unser Leben war die stetig, ruhig und verläßlich sich dehnende Gegenwart. An den Sonntagen zogen Margarida, Carl und ich unsere Bergschuhe an – meine hatte Carl gemeinsam mit mir in einem Geschäft in der Altstadt ausgesucht, hohe Lederschuhe von der Firma Hanwag, etwas Solideres gab’s damals nicht (Hanwag klang in meinen Ohren wie eine Maschine oder eine weltumspannende Organisation – Unimog, Hapag Lloyd, Hanse –, und ich war ordentlich ernüchtert, als ich erfuhr, daß der Name eine Abkürzung war und ausgesprochen Hans Wagner hieß und nichts weiter) –, stiegen auf der Maria-Theresien-Straße in die Lanserbahn ein, setzten uns auf die lackierten Holzbänke und fuhren aus der Stadt hinaus zum Berg Isel und weiter durch den Wald, der ein Zauberwald war mit mäandernden Tannennadelwegen, Baumstümpfen, aus denen weiß und golden das Harz quoll, mit einem Friedhof mitten unter den Bäumen, auf dem nicht ein Grabstein gerade stand; fuhren in Serpentinen hinauf zu dem sanften Hochtal am Fuß des Patscherkofels, in das Dorf Lans, wo eine andere Luft war und eine andere Zeit; aßen im Wilden Mann zu Mittag – Hirschgulasch mit Preiselbeeren und Mehlnocken –, Carl rauchte zum Kaffee eine von Margaridas Falk, während sie fünf rauchte; spazierten auf einem Pfad durch die Maisfelder aus dem Dorf hinaus und weiter am Bahndamm entlang von der Haltestelle Lans zur Haltestelle Lansersee und stiegen zwischen den Wochenendhäusern über Stufen aus Holzbalken und Eisenhaken hinunter zum See. Margaridas Schnürsenkel lösten sich und
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