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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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anderen.
    Dieses Leben führte er ein knappes Jahr. Dann hatte er genug davon. Von einem Tag auf den anderen. Im Herbst 1935 kehrte er nach Wien zurück – aber nur, um seine Sachen zusammenzupacken und nach Lissabon zu ziehen. Von nun an leitete er die Handelsgesellschaft, in der Bárány über maßgebliche Anteile verfügte.
    Was war geschehen?
    »Ich habe mich nicht getraut. Ich stand an der Peripetie meines Lebens. Das wußte ich. Und weil ich es wußte, habe ich mich nicht getraut, mein Leben so gründlich zu ändern, wie es der neue Weg verlangt hätte. Also bin ich ein paar Schritte zurückgetreten und habe meine Reise auf einem der alten Wege fortgesetzt.«
    Im Erdgeschoß des Hauses in der Rua do Salitre wurden die Waren aus Übersee und den Kolonien – hauptsächlich Kaffee und Kakao, aber auch Kokosnüsse, Gewürze und manche Teesorten – in die hübschen Holzkisten mit dem Brandstempel Bárány & Co. verpackt, um nach Wien und in die Filialen in Mailand, Prag, Budapest und München verschickt zu werden; im zweiten Stockwerk bezog Carl eine prächtige Wohnung. Bald schlich sich wieder die Langeweile in sein Herz. Dagegen half dann doch die Mathematik. Als er glaubte, genug Portugiesisch zu können, schrieb er sich als Gasthörer an der Universität in Lissabon ein und nahm an den wissenschaftlichen Diskussionen der Kollegen teil. Allein die Tatsache, daß er in Göttingen, der »Welthauptstadt der Mathematik«, studiert, bei David Hilbert und Max Born Vorlesungen besucht und bei Emmy Noether dissertiert hatte, verschaffte ihm großen Respekt – der natürlich noch dadurch gesteigert wurde, daß er sich in seiner Habilitation über die Riemannsche Vermutung den Kopf zerbrochen hatte. Eine Lektorenstelle an der Universität Coimbra wurde ausgeschrieben, Carl bewarb sich und wurde ausgewählt. Und er lernte Margarida kennen.
    Carl: »Ich war vorhin nicht präzise. Nicht auf dem Wendepunkt unseres Lebens haben wir uns kennengelernt, sondern knapp danach. Als frisch Resignierte, frisch Verzagte, als junge Verräter, als gerade erst Desillusionierte, als beinahe Ausgeträumte. Unsere Beziehung versprach nicht eine neue Chance, aber einen erträglichen Umgang mit der Niederlage. Und das nenne ich die Grundlage für eine ideale Paarschaft. Margarida hat mir erzählt, du hättest ihr gesagt, sie und ich seien deine idealen Eltern gewesen. Ich gebe zu, das hat mich gefreut, wirklich sehr gefreut. Pflichtgemäß hatte ich mich natürlich auch darüber empört.«
7
    Solche Redeschwalle waren bei Carl nicht ungewöhnlich. Wenn eine Geschichte seiner Meinung nach einen weitgeschwungenen Bogen erforderte, mutete er sich selbst und den anderen zu, diesen Bogen zu spannen und zu halten. Ich habe vor nicht langer Zeit für Ö1 (das ist unser Kultursender) einen kleinen Essay über die Erschaffung von Sinn und Vergangenheit geschrieben; Carls Art zu erzählen hat mich dazu angeregt. Nicht die Begebenheit, gleichgültig, ob schwerwiegend oder nebensächlich, schrieb ich darin, entscheide über Tiefe und Weite des Raumes in der Vergangenheit, der erzählend mit Sinn erfüllt wird, sondern die Frage, wie viele andere Begebenheiten, also: wieviel Welt diese eine Begebenheit unter ihr Diktat zwinge. Die Kreuzigung Christi als Faktum sei zu ihrer Zeit nichts Außergewöhnliches gewesen, erst die Evangelisten hätten dieses Ereignis erhöht und gleich zum Außergewöhnlichsten überhaupt erkoren, indem sie in ihren Erzählungen die ganze Welt daraufhin ausrichteten. Und so weiter … Carl wollte mir erzählen, wie es dazu gekommen war, daß er bereit war, einen Schritt zu setzen, der für ihn bis dahin undenkbar gewesen war, nämlich zu heiraten.
    Der Föhn hatte inzwischen das Tal eingenommen. Von einer halben Stunde auf die nächste inszenierte er mitten im Februar die Illusion eines Mai-Nachmittags, spielte Gerüche vor, die es im Winter gar nicht geben konnte – Flieder, warmer Staub nach einem Gewitter, Sonnenöl. Es war fiebrig warm geworden, und ich fühlte mich krank, der Schweiß stand mir auf dem Rücken, ich fröstelte. Und meine Einlagen waren durchnäßt. Ich wollte zurück zur Villa, wollte ein Bad nehmen, meine Sachen in die Waschmaschine werfen und mich eine Stunde hinlegen.
    »Ich kann nicht mehr stehen«, sagte ich.
    »Du bist mein Meister«, sagte er.
    Von der Kirche durchs Dorf ging’s abwärts, ich mußte die Bremse am Rollstuhl ziehen und konnte mir nicht mehr vorstellen, wie ich den Wagen vor einer

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