Abendland
knappen Stunde hier hinaufgeschoben hatte. Wenn ich die Bremse zu fest anzog, rutschten die Räder über den Streuschotter, so wenig Gewicht hatte Carls Körper.
Wir kamen beim Laden vorbei, der ein kleiner Supermarkt der ADEG-Kette war. Carl sagte: »Ich glaube, man nimmt Johannisbeermarmelade für Bratäpfel. Oder nimmt man Preiselbeeren?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Nimm beides. Wir haben weder das eine noch das andere im Haus. Ich warte draußen. Stell die Bremse fest und mach dir keinen Kopf!«
Ich rückte den Rollstuhl nahe an das Schaufenster, das blind war vom Straßenstaub. Der Gehsteig verengte sich vor der Eingangstür. Wenn ein Auto schnell durch den Ort führe und vielleicht einem entgegenkommenden auswiche, könnte es gefährlich werden. Carl zwinkerte mir zu, spreizte zwei Finger zum Victory-Zeichen, hob auch die andere Hand, ballte sie zur Faust, streckte den Daumen nach oben, schob schließlich die Hände wieder unter die Wolldecke und wandte den Blick von mir ab.
Im Laden war es heiß. Ich konnte den Harn nicht halten. Er rann in die Einlagen, die ihn nicht mehr aufnahmen, rann an meinen Oberschenkeln hinunter. Ich fragte bei der Kasse, ob ich die Toilette benutzen dürfe. Die sei eigentlich nicht für Kunden, sagte der junge Mann. »Ich habe mir die Blase erkältet«, sagte ich. Eine Frau stand beim Förderband, die trug einen vielfarbenen Anorak mit Pelzkragen, sie hob die Augenbrauen, zuckte mit den Lippen, faßte Bananen, Lauchstange, Sellerie, Karotten und ihre anderen Sachen aus dem Einkaufswagen und dachte sich etwas. Der junge Mann öffnete die Kasse und gab mir einen Schlüssel, an dem ein schmutziges Plastiketikett hing. Ich zog ein lustiges Gesicht, ging mit großen Schritten an den Regalen entlang nach hinten, fuchtelte mit dem Schlüssel und rief der Verkäuferin bei der Brotabteilung zu: »Nur ausnahmsweise!« »Natur ist Natur«, antwortete sie.
Die Toilette war ein enger, fensterloser Raum, in dem Putzbürsten, Putzeimer und Putzmittel standen. Von der Decke herab hing an einem aufgewickelten Kabel eine Energiesparbirne, höchstens 25 Watt. Ich schloß hinter mir ab, hängte den Mantel über das Ende von einem Besenstiel, es war kein Haken in dem Raum, öffnete den Gürtel und zog die durchweichten Einlagen aus der Unterhose. Alles war feucht, die Unterhose, die Hose bis hinunter zu den Oberschenkeln, der Saum des Hemdes. Die gebrauchten Einlagen wickelte ich in Toilettenpapier, davon gab es zum Glück reichlich, und schob den Papierball in die Manteltasche. Ich traute mich nicht, sie in die Kloschüssel zu werfen. Wenn sie den Abfluß verstopften, würde das einen Rattenschwanz von peinlichen Umständen nach sich ziehen. Inkontinenz ist kein Gebrechen, das Mitgefühl erregt. Ich wollte sie irgendwo unterwegs in einen Abfalleimer stecken, falls da einer war, spätestens vorne bei der Haltestelle der Lanserbahn war einer, das wußte ich. Ich versuchte, Unterhose, Hose und Hemd zu trocknen, indem ich den Stoff zwischen zwei Papierlagen preßte. Aber das kostete mich zuviel Kraft und hatte wenig Effekt. Mir wurde schlecht, ich setzte mich auf den Klodeckel und atmete vorsichtig und bewegte die Augen nicht. Ich holte drei frische Einlagen aus der Manteltasche, bettete sie in die Unterhose, so wie es mir Frau Mungenast beschrieben hatte, eine in die Mitte, die anderen beiden links und rechts darüber, so daß sie die mittlere je zur Hälfte abdeckten. Es sah aus, als ob unter der Hose ein sexuelles Ungetüm läge.
Ich wußte nicht, wie lange ich in dem winzigen Raum gewesen war, sicher nicht so lang, wie es mir vorkam. Die Verkäuferin beim Brot winkte mir mit den Fingern zu, als ich heraustrat. Ihr Hals war ein wenig gebläht, was mir gefiel. Zum erstenmal seit meiner Operation regte sich eine sexuelle Empfindung in mir, pochte in meiner Brust wie eine Extrasystole, ein Ball, der aufspringt und verschwindet; eine konjunktivische Empfindung allerdings: So würdest du fühlen, so hättest du noch vor einem Monat gefühlt. So ist es, wenn man am Ende ist. Carls Sorge war der Tod, oder nicht einmal der war mehr eine für ihn. Zu Frau Mungenast könnte ich sagen: ›Würde es Sie langweilen, meine Vertraute zu sein?‹ Oder einfach: ›Darf ich mit Ihnen reden?‹ ›Natürlich. Was wollen Sie mir sagen?‹ ›Ich habe Sorge, nie mehr einen steifen Schwanz zu kriegen.‹ – Gleich war es vorbei. Es war nicht ganz vorbei, aber doch genug davon war vorbei, so daß sich auf etwas
Weitere Kostenlose Bücher