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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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mehr Licht hoffen ließ.
    Durch das Schaufenster sah ich den Umriß von Carls Kopf und Schultern – der Schatten einer Büste, nicht anders, als wenn sein Kopf und ein Stück seines Körperchens aus Pappe ausgeschnitten und auf den Fahrradständer gesteckt worden wären. Im Regal für Shampoo, Seifen, Nagellack, Wegwerfrasierer, Rasierschaum, Zahnpasta, Duschcreme, Kämme, Nagelbürsten, Ölbäder, Achselhöhlenstifte, Wimperntusche waren auch die Einlagen, die mir Frau Mungenast empfohlen und von denen sie mir am ersten Tag nach meiner Ankunft einen Jutesack voll mitgebracht hatte: Tena Lady normal. Sogar Tena Lady forte gab es. Warum hat sie mir nicht forte mitgebracht? Morgen, dachte ich, werde ich ihr meine Sorge erzählen. Es wäre klug gewesen, zwei drei Pakete einzukaufen, mein Vorrat ging allmählich zu Ende. Aber das wollte ich nicht, ich wollte nicht den Schlüssel zur Toilette bei dem Herrn an der Kasse abgeben und zugleich drei Pakete Windeln aufs Förderband legen. Ich drehte mich noch einmal zu der jungen Frau beim Brot um, schön wie ein Coverbild war sie und ein wenig abstoßend. Ich nahm ein Glas Preiselbeeren und ein Glas Johannisbeermarmelade aus dem Regal, zahlte und trat auf die Straße. Carl war im Rollstuhl eingenickt. Als ich die Feststellbremse öffnete, schreckte er auf. Er sagte ein paar unzusammenhängende Worte und griff nach meiner Hand und nickte heftig und zitterte mit den Knien.
    »Es wird besser«, sagte er, »du kannst es mir glauben.«
    »Ich glaube, du mußt Frau Mungenast anrufen«, sagte ich. »Ich schaffe es nicht über den Weg zum Haus.«
    Ich schob den Rollstuhl durch das Dorf, zwischen den Feldern hindurch; vorne bei der Haltestelle sah ich Frau Mungenast auf uns warten. Ich sah den Rauch ihrer Zigarette.
    »Und wem hat das jetzt geholfen?« sagte sie nur.
    Ich konnte keine Antwort geben, leerte meine Tasche in den Abfallkorb bei der Bahnüberquerung, um mich herum die sprießenden und zwitschernden Zeichen des Vorfrühlings. Frau Mungenast schob den Rollstuhl, ich stapfte hinter ihr her über die Eisflecken, die im Föhn weich geworden waren, der Abstand zwischen uns wurde größer von Schritt zu Schritt. Sie wartete im Hausflur, das Hinterrad des Rollstuhls hielt mir die Tür auf. Der Friedhof lag lange Zeit zurück, und die Toilette beim ADEG war bloß ein Alb, und das Gesicht der jungen Frau beim Brot war verschwunden, wurde abgedrängt vom Bild einer Schauspielerin aus einer amerikanischen Fernsehserie. Ohne ein weiteres Wort an Carl oder Frau Mungenast ging ich hinauf in den ersten Stock und legte mich, während das Wasser in die Wanne lief, nackt auf den Fliesenboden, weil ich nicht warten konnte.
    Nach dem Bad schlief ich eine Stunde oder etwas länger, und es ging mir gut, als ich erwachte. Frau Mungenast war bereits nach Hause gefahren. Draußen dämmerte es, der Föhn blies vom Patscherkofel herunter. Ich zog mir frische Sachen an, steckte die schmutzigen in die Waschmaschine. Frau Mungenast hatte in der Küche sechs Äpfel in einer Kasserolle vorbereitet, die Gehäuse herausgeschnitten, Johannisbeermarmelade oder Preiselbeeren eingefüllt, Zimt darübergestreut, etwas Butter darübergelegt. Auf dem Herd stand ein bauchiger Emailletopf mit Punsch aus Earl Grey, Rotwein, Orangensaft, Rum, Kandis und Gewürzen. Sie hatte Carl versorgt. Er saß in seinem Lederstuhl und war hellwach, trug seinen Pyjama, darüber den grünen Hausmantel. Sein Handy lag auf dem Beistelltischchen, neben den belegten Brotschnitten, der Teekanne, dem Apfel und dem Tellerchen mit der Zigarette. Im Kamin brannten Buchenscheite. Aus den Lautsprechern über dem Schreibtisch klang Billie Holidays Stimme.
    »Wir müssen die Äpfel nur ins Rohr schieben«, sagte er. In seinen Augen stand junge, kalt funkelnde Intelligenz. Fülle und Spannung seines Geistes waren zurückgekehrt. Er hatte etwas vor. »Manchmal klingt sie wie ein querulantisches Kind, jeder Vokal ein Dorn. Klingt irgendwie schlechtgelaunt. Findest du nicht? Wie auch immer …«
8
    Alles ist jetzt ein Jahr her. Nichts ist seither geschehen. Ich habe mich auf keine Neuigkeiten eingelassen. Nur auf’s Nacherzählen. Ich habe mich als gegenwartsresistent erwiesen. Die Erinnerung ist durch das, was sie bewahrt, ein Maß für den Wert des Erinnerten. So ähnlich hat es Carl ausgedrückt – wenn ich mich recht erinnere. Während ich dies schreibe (nicht in den Computer, sondern in mein Notizbuch), sitze ich auf dem Blechdach vor meinem

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