Abendland
Arbeitszimmer. Ich bin prächtig gelaunt. Ein warmer Wind weht vom Wiental herein gegen meinen Rücken. Mein Ischias halte ich mit Voltaren klein. Überwunden sind Impotenz und Inkontinenz (fast). Ich habe den Blechtisch dunkel und matt gestrichen, damit mich die Platte nicht blendet, wenn ich hier draußen in der Sonne schreibe – Vorsorge für den Sommer; eine geräumigere Zukunft interessiert mich zur Zeit nicht. Inzwischen bin ich bei einer Schachtel Camel pro Tag angelangt . Robert Lenobel sagt, ich soll, wenn ich schon rauche, es wenigstens ohne schlechtes Gewissen tun. Alles in allem habe ich ein glückliches Leben gehabt, bis jetzt. Merkwürdigerweise steigerte es stets mein Wohlempfinden, wenn ich mir einbildete, mein Leben sei unglücklich gewesen. Wenn ich sagte, mein Leben war unglücklich, so war dies eine Beschwörung; ich beschwor das Unglück, es mit dem heutigen Tag bewenden zu lassen. Wenn ich nun behaupte, mein Leben war glücklich, laufe ich dann Gefahr, das Glück zu vertreiben? In solchen Fragen liegt der Quatsch des neunzehnten Jahrhunderts, sagt Giacomo Leopardi. Robert sagt, aus seiner eigenen Lebenserfahrung und auch aus seiner Praxis als Analytiker wisse er, daß es weder ein glückliches noch ein unglückliches Leben gebe; vielmehr seien Glück und Unglück gar nicht Eigenschaften des Lebens, sondern ein auf unerlaubte Weise Zusammengefaßtes, immer Epiloge, nur im Präteritum existent, nie im Präsens; niemals würden diese Begriffe eine wahre Beschreibung eines Zustandes leisten; Glück und Unglück seien Maschinen, um einige Spreißel der Realität zu einem Zeltgerüst zurechtzubiegen, über das die luftdichte Plane einer Geschichte gelegt werde, um darunter so zu tun, als ob; also Lüge. Darin, finde ich, liegt der Quatsch des zwanzigsten Jahrhunderts. – Nichts kann mir die Freude am Leben nehmen. Es ist Freitag. Nachts um eins werde ich mit Dagmar telefonieren. So haben wir es vereinbart. Übrigens bestehen gute Aussichten.
Ich möchte Margaridas Geschichte zu Ende erzählen, wie ich sie von ihr gehört habe, als wir beide auf der Betonbrüstung saßen und auf den Inn blickten, der an diesem Tag im März 1979 graues Schneewasser führte.
Beim Frühstück hatte eine gespannte Stimmung zwischen Margarida und Carl geherrscht. Sie blickten einander nicht an, sprachen wenig. Sie starrte ins Leere. Die Lippen zog sie zusammen, ein strenges O. Wenn er sie ansprach, zuckte sie, als hätte er gebrüllt, was er ja gerade nicht getan hatte. Seine Bewegungen waren langsamer als sonst; und auch wenn noch nie etwas Ähnliches passiert war, hielt ich es für möglich, daß er gleich aufstehen, den Tisch umwerfen, sich binnen einer Minute heiser schreien und einen endgültigen Strich unter diesen Teil seines Lebens ziehen könnte, was immer das auch heißen mochte. Am Vorabend waren wir in der Maria-Theresien-Straße essen gewesen. Carl wäre lieber zu Hause geblieben. Er werde in dem Restaurant anrufen und bitten, uns ein Menü herüberzuschicken, hatte er gesagt; er meinte, ich hätte wenig Lust auszugehen, würde lieber über meine Not mit Dagmar sprechen, damit ich zu einer Entscheidung fände, das sei ja wohl der Grund gewesen, warum ich mitten in der Nacht in Frankfurt in den Zug gestiegen und nach Innsbruck gefahren sei. Margarida war dagegen; es sei noch genug Zeit für »Seelenbohrungen«, sie aber komme so gut wie nie aus der Wohnung, sagte sie. Ich unterstützte sie, obwohl ich tatsächlich lieber in der Anichstraße geblieben wäre und obwohl ich Carls Sorge ahnte. Margarida würde sich betrinken. Es war nämlich eigenartig: Zu Hause trank sie zwar auch zuviel, aber nicht so viel, daß ihr, wie es einmal meine Mutter formuliert hatte, mit den Worten auch die Manieren durcheinandergerieten. Wenn sie außerhalb der Wohnung unter Leuten war, verlor sie die Kontrolle, besonders in Lokalen, in denen die Kellner ständig die Gläser nachschenkten. Sie trank hastig fünf Gläser Wein und behauptete hinterher, nur eines getrunken zu haben, und in einer kleinlichen Art und Weise, die ihr in nüchternem Zustand absolut fremd war, konnte sie darauf bestehen, jemand habe ihr etwas in den Wein geschüttet, denn anders sei es nicht zu erklären, daß ein Glas so eine Wirkung habe, wobei sie, den Zeigefinger vor ihrem Gesicht in die Luft hackend, bestritt, daß die Wirkung mit dem Wort »betrunken« bezeichnet werden dürfe. Einmal war sie drauf und dran gewesen, einen Notarzt zu rufen, nicht weil
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