Abendland
sie sich krank fühlte, sondern um Carl zu beweisen, daß er ihr unrecht tue, obwohl er gar nichts gesagt hatte, nicht laut jedenfalls. Ich hatte ähnliche Szenen schon öfter miterlebt. Ich fürchtete mich davor. Während mein Vater unter Alkohol weich, weinerlich und unglücklich wurde, allerdings mit Auszuckern rasender Gewalttätigkeit, verwandelte sich Margarida in eine sture Rechthaberin. Sie tat mir leid. Sie war auf verlorenem Posten. Wenn Carl sie einfach hätte betrunken sein lassen, wäre weiter nichts daraus geworden; so aber, wie er den stummen Richter gab, war jeder Rausch ein Hammerschlag gegen ihren Charakter. Und dagegen wehrte sie sich, und manchmal ging das nicht anders als mit häßlichen Beschimpfungen. Andererseits – wie hätte sich Carl richtig verhalten sollen? Er hätte mit ihr mittrinken können; aber das wollte er nicht. Wie in allem war er auch beim Alkohol mäßig. Sollte man ihm das vorwerfen? An diesem Abend in dem Restaurant in der Maria-Theresien-Straße war es nicht anders gewesen. Bevor das Essen kam, hatte Margarida bereits einen Aperitif und drei Gläser Rotwein getrunken. Ihre Bewegungen wurden zäh und ungenau, ihre Statements allumfassend und durchdrungen von einer Robin-Hood-Liebe zu den Unterprivilegierten, die sie sich in die augenblickliche Situation hinein erfand, etwa als einen Lehrbuben des Kochs, an dessen Stelle sie in die Suppe spucken würde, um ein Zeichen zu setzen gegen die »mit den hohen Nasen«. Carl sagte, es zwinge den Lehrbuben ja niemand, hier zu arbeiten, wahrscheinlich sei er sogar froh, in diesem Lokal eine Stelle bekommen zu haben. Worauf sie sagte, er habe ja keine Ahnung, in was für Notsituationen ein junger Mensch geraten könne; worauf er sagte, Innsbruck sei nicht die dritte Welt; worauf sie sagte, er sei ein Arschloch. Ich fuhr dazwischen, erzählte von meiner Arbeit beim Hessischen Rundfunk und bei dem Schulbuchverlag und ließ eine Stunde lang keinen von ihnen zu Wort kommen. Margarida trank, der Kellner schenkte nach, sie trank, und er schenkte nach. Irgendwann neigte sich Carl zu ihr und flüsterte ihr etwas zu. Sie schlug die flache Hand auf den Tisch und rief: »Zahlen!« Den Kellner fragte sie, ob er den Eindruck habe, sie sei betrunken. »Gut gelaunt«, sagte er, »nicht betrunken, nur gut gelaunt.« In der Nacht, als ich in meinem Bett lag, hörte ich Carl, wie er auf Margarida einredete, und der Tonfall seiner Stimme erinnerte mich schmerzlich an den Nachmittag, als Margarida und ich von den Donauauen zurück zum Rudolfsplatz gekommen waren und ihn in seinem Arbeitszimmer gefunden hatten und ich gelauscht hatte und schließlich weggelaufen war, weil ich es nicht aushielt, wie mein großes Vorbild hinter der verschlossenen Tür seiner Frau vorjammerte.
Das Frühstück am nächsten Morgen verlief wie beschrieben: kühl und in Zeitlupe. Hinterher schlug Margarida vor, wir – sie und ich, nur sie und ich – könnten doch am Inn entlangwandern, die Rucksäcke mitnehmen, Proviant einkaufen und erst am Abend zurückkommen – wenn sich die Launen von König und Königin gebessert hätten, ergänzte ich für mich.
Bei diesem Spaziergang nun öffnete sie mir ihr Herz – und ich ihr das meine auch ein Stück weit.
Den »großen falschen Schritt«, erzählte sie weiter, habe sie getan, als sie allein nach Lissabon fuhr. Sie meinte, es dürfe nicht genügen, ihrem Verlobten lediglich in einem Brief mitzuteilen, daß sie sich von ihm trennen wolle. Sie mußte es Daniel sagen und ihm dabei in die Augen schauen.
Margarida hatte bis dahin noch mit keinem Mann geschlafen. Im Zug von Coimbra nach Lissabon beschloß sie, es mit Daniel zu tun. Sie meinte, es ihm schuldig zu sein. Und sie wollte nicht mehr Jungfrau sein. Carl hatte ihr von seinem Leben in New York erzählt, und sie war sich sehr provinziell vorgekommen. Sie wollte es vorher wenigstens einmal ausprobiert haben.
In Daniels Wohnung waren große Fenster zu einem Garten hinaus, die reichten bis zum Boden. Sie ließen sich schräg stellen, so daß sie in einem steilen Winkel ins Zimmer ragten. Es war später Nachmittag, sie waren eingeschlafen, und als sie erwachten, fiel ein Licht auf die Scheibe, und sie sahen sich darin gespiegelt. Sie lagen beide auf der Seite, Margarida im Rücken des Mannes, der noch immer meinte, ihr Verlobter zu sein. Sie hatten sich mit dem Leintuch zugedeckt. Sein Oberkörper war bis zur Brust frei. Eine Haarsträhne war über sein Gesicht gefallen, im
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