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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Spiegelbild sah sie aus wie eine zornige, hoch in die Stirn ragende Braue. Margaridas Haar war über die Matte ausgebreitet, auf ihren Wangen lag ein Schimmer der vom Fensterglas gebundenen Sonne. Sie waren im selben Moment aufgewacht und hatten ihr Bild in der Fensterscheibe gesehen. Weiß wie Zementfiguren waren die beiden dort über ihnen. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, schielte zum Fenster hin, bis ihr die Augäpfel in den Höhlen weh taten. Die Bäume und Telefonmasten und der Giebel des Nachbarhauses und die Wolken darüber schlugen durch das Trugbild hindurch, und es fiel ihr leicht, die zwei dort oben als andere zu sehen.
    »Ich sagte, daß ich die Verlobung lösen will, daß ich einen anderen heiraten werde. Aber ich wußte im selben Moment, daß es nicht so funktionieren würde, wie ich mir vorgenommen hatte. Nämlich weil bereits ein falscher Schritt getan war.«
    Sie fuhr nach Coimbra zurück. Sie teilte ihrem Vater ihren Entschluß mit. Er stellte sich auf ihre Seite. Ohne daß Margarida davon wußte, zahlte er an Daniels Familie eine Entschädigung. Davon erfuhr sie erst viel später.
    Carl und Margarida heirateten in der Kirche Santa Cruz, einem Monumento Nacional; darauf hatte ihr Vater bestanden; es sollte eine unübersehbare Geste gegenüber allen sein, die hinter seinem Rücken tuschelten, sollte sagen: Seht her, ich bin nicht nur einverstanden mit diesem Schwiegersohn, ich bin stolz auf ihn. Als Trauzeugen begleiteten sie ein Kollege Mathematiker und eine Kusine, die von Herrn Durao bestellt war, weil sich sonst niemand fand, der Margarida diesen Dienst erweisen wollte. Als Carls Gastlektorat schließlich zu Ende war, folgte ihm Margarida nach Lissabon. Alle ihre Sachen ließ sie im Haus des Vaters, nur ein paar Bücher nahm sie mit. Sie wohnten in der Rua do Salitre über dem Kontor von Bárány & Co., das war eine Viertelstunde von Daniels Wohnung entfernt. Aber sie nahm keinen Kontakt zu ihm auf. Lange Zeit nicht.
    Margaridas Schwester Adelina erkrankte an Krebs und starb. Ihr Mann verlor den Boden unter den Füßen, und seine Familie suchte eine neue Frau für ihn. Bis es soweit war, nahmen Margarida und Carl die Zwillinge zu sich. Den Buben wollten die Großeltern haben.
    Nun waren sie eine Familie. Vater, Mutter, zwei hübsche, hüpfende Töchter – Mariana und Angelina. Für zwei Jahre waren sie eine Familie. Margarida nähte für die beiden Kleidchen, und für ihre Lieblingspuppen nähte sie die gleichen Kleidchen, nur kleiner. Carl war viel unterwegs, in England, aber auch in Deutschland. Dann brach der Krieg aus. Während eines Aufenthalts in London wurde Carl, als Bürger des Deutschen Reiches, festgenommen. Er wurde in ein Internierungslager nach Australien gebracht, weiter nach Kanada. Er schrieb Margarida. Sie brauche sich nicht um ihn zu sorgen, und sie sorgte sich nicht. Ihr Schwager heiratete wieder, und Mariana und Angelina zogen zu ihm und ihrer neuen Mutter, und Margarida war allein.
    Sie besuchte ihren alten Vater in Coimbra. Inzwischen nannte er sich einen Feind der Regierung, aber nur seiner Tochter gegenüber. Er hasse die Politik, sagte er. Aber er sagte es leise, flüsterte in seinem eigenen Haus. Traute niemandem mehr, traute sich nicht einmal vor den wenigen Freunden, die ihm geblieben waren, seine Verbitterung zu zeigen, weil er fürchtete, dies könne als Kritik am Estado Novo verstanden werden. Nur seiner Tochter gegenüber äußerte er seine Enttäuschung und auch seine Empörung über die Übergriffe der Polícia de Vigiância e Defesa do Estado , dieser allerorts lauernden politischen Polizei, die inzwischen auf sämtliche Organe des Staates, einschließlich der Streitkräfte, Einfluß ausübte. Am Ende seines Lebens hatte Herr Durao noch einmal eine Wendung in seinem Denken vollzogen; allerdings betraf diese nur sein politisches Denken. Mehr als je zuvor wandte er sich der Religion zu, und wenn Margarida ihm das Offenkundige vor Augen hielt, nämlich daß die Kirche die solideste Stütze der Diktatur sei, hörte er einfach weg. Er hätte es gern gesehen, wenn seine Tochter wieder nach Coimbra gezogen wäre, wenn sie in seinem Haus gewohnt hätte. Aber Margarida kehrte nach Lissabon zurück. Wenige Monate später starb ihr Vater.
    »Hätte ich damals nicht mit Daniel geschlafen«, erzählte sie, »ich hätte ihn nun nicht gesucht. So aber habe ich es getan.«
    Daniel Guerreiro Jacinto wohnte noch unter derselben Adresse, und er war noch allein. Sie blieb

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